Bitte klicken Sie auf einen Titel, um den Bericht anzeigen zu lassen.
Bei der Informationssuche über RSS entscheiden Sie selbst, welche Mitteilungen Sie erhalten wollen.
Sie brauchen nach dem Abonnieren des RSS-Dienstes nicht mehr die entsprechende Webseite zu besuchen.
Werden neue Inhalte ins Internet gestellt, werden Sie unverzüglich informiert.
Durch den Klick auf das RSS-Symbol kommen Sie zur entsprechenden RSS-Datei
oder Sie fügen http://www.materiale-textkulturen.de/rss/berichte in Ihren RSS-Reader ein.
Eine Frage der Form | [Bericht lesen] |
Bericht über die Tagung „The Roll in Western Europe in the Late Middle Ages“, Universität Heidelberg, SFB 933 „Materiale Textkulturen“, TP B10 „Rollen im Dienst des Königs“, 28.–29. September 2017 |
Gastbeitrag von Stefan Holz (TP B10 „Rollen im Dienst des Königs“)
Im Zentrum der international besetzten Tagung The Roll in Western Europe in the Late Middle Ages, die vom Teilprojekt B10 Rollen im Dienst des Königs des Heidelberger SFBs 933 Materiale Textkulturen organisiert wurde, standen die Materialität und Praxeologie spätmittelalterlicher Schriftrollen in Westeuropa, vor allem Englands und Frankreichs. Drei Leitfragen prägten die wissenschaftliche Tagung:
Insgesamt vierzehn, wesentlich in den Themenbereichen der spätmittelalterlichen Historiographie und Verwaltung verankerte Vorträge nahmen sich den drei Leitfragen an. Es kristallisierte sich im Laufe der Tagung früh heraus, dass monokausale Antworten auf die Frage nach der Wahl der Rolle unzureichend sind. Die unterschiedlichen Gebrauchskontexte des Schriftmediums Rolle müssen dahingehend individuell untersucht werden. Manchmal lagen die Gründe für die Wahl der Rolle in einer bestimmten Symbolik, manchmal jedoch auch in der Übernahme und Wahrung spezifischer Traditionen oder der Funktionalität der Rolle selbst. Die Frage nach den Gebrauchskontexten der Rolle wurde ebenso vielfältig beantwortet. Auch wenn im spätmittelalterlichen Westeuropa Schriftrollen schwerpunktmäßig im Bereich der Verwaltungen, meist in der Finanz- und Justizverwaltung oder als präliminare Dokumente, Anwendung fanden, gab es am Ende kaum einen Bereich der mittelalterlichen Schriftkultur, in dem die Rolle nicht vorkam. Angefangen von den in England und Frankreich ab dem 13. Jahrhundert recht weit verbreiteten genealogisch-historiographischen Schriftrollen der jeweiligen Herrscherdynastien, über Küchenzettel und Kaufbelege bis hin zu Gebets- und Amulettrollen, in allen Bereichen des mittelalterlichen Lebens waren Menschen mit Schriftrollen konfrontiert. Der Umgang mit Schriftrollen war für mittelalterliche Menschen ebenso vertraut wie jener mit Codices.
Die Tagung konnte zeigen, dass die in der Forschung lange Zeit hinter dem Codex zurückgesetzte Rolle ihren Platz in der Erforschung mittelalterlicher Schriftkultur verdient hat. Zwei Tagungsansätze waren für die Erforschung der Schriftrolle besonders fruchtbar: Zum einen der vergleichende Blick auf die Schriftkulturen einzelner Regionen (West)Europas. Zum anderen der dem Heidelberger SFB 933 immanente Fokus auf die Materialität und Praxeologie der Schriftmedien. Der erste Ansatz ermöglicht nicht nur die Kontrastierung regional gewonnener Ergebnisse, sondern offenbart überdies, dass es sich bei der Schriftrolle nicht allein um ein länder- oder regionenspezifisches Phänomen mittelalterlicher Schriftlichkeit handelte. Der zweite Ansatz erlaubt es, die Schriftzeugnisse besser zu verstehen, indem sowohl schriftstückspezifische Charakteristika untersucht werden als auch übergreifende Produktions- und Gebrauchskontexte in die Interpretation miteinbezogen werden und somit Schriftstücke ganzheitlich analysiert werden können. Die Ergebnisse der Tagung werden in der Reihe Materiale Textkulturen veröffentlicht. Ein ausführlicher, englischsprachiger Tagungsbericht ist auf HSozKult erschienen.
Das Konferenzprogramm finden Sie hier.
Kontakt: Stefan Holz (Stefan.holz[at]zegk.uni-heidelberg.de)
Wissenschaft und Wikipedia. Der Heidelberger Altgermanist Professor Ludger Lieb über Potenziale und Grenzen der Wikipedia für die Geisteswissenschaften | [Bericht lesen] |
Vom 10. bis 11. November 2017 fand in der Handschriftensammlung der Universitätsbibliothek Heidelberg eine Schreibwerkstatt der Wikimedia Deutschland e.V. Initiative Galleries, Libraries, Archives and Museums (GLAM on tour) statt. In Kooperation mit der UB Heidelberg und dem SFB 933 trafen sich Wikipedianerinnen und Wikipedianer mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der UB und der Uni Heidelberg. Gemeinsam arbeiteten sie daran, wie das Wissen der berühmten Handschriftenabteilung der UB Heidelberg in die Wikipedia gebracht werden kann. Am Abend des ersten Tages hielt der Sprecher des SFB 933, Professor Ludger Lieb, einen ins Grundsätzliche zielenden Vortrag über das Verhältnis von Universität und Wikipedia. |
Hier folgt das nur leicht überarbeitete Manuskript des Vortrags:
Da die Wikipedia kein Forschungsgegenstand von mir ist, halte ich heute keinen im engeren Sinne ‚wissenschaftlichen‘ Vortrag, sondern stelle eher allgemeine Gedanken eines Geisteswissenschaftlers über die Wikipedia vor. In diesen essayistischen Betrachtungen scheue ich mich nicht davor, Selbstverständliches zu sagen – denn Selbstverständliches ist oft nur vermeintlich selbstverständlich und es lohnt sich oft, genau das nochmal zu bedenken, was man irgendwie für klar oder geklärt hält.
Wichtig ist mir, Sie zum Denken anzuregen, gerne auch zum Widerspruch. Ich habe auch keine Patentlösungen, finde es aber –wie manche meiner Kolleginnen und Kollegen – an der Zeit, grundsätzlich über das Verhältnis von (Geistes)Wissenschaft und Wikipedia nachzudenken.
Denn die Wikipedia existiert und ist – so meine Wahrnehmung – auch aus dem wissenschaftlichen Alltag des Forschenden, Lehrenden und Studierenden nicht mehr wegzudenken. Ich nehme an, wir benutzen sie alle, viele von uns täglich, und da heute so viele Wikipedianer da sind, möchte ich auch explizit Danke sagen: Danke, dass Sie so viel Zeit und Kraft in dieses Projekt stecken. Es ist innerhalb des kommerzialisierten Internets eine wahre Oase des Wissens, ein Schatz, ein Hort unermesslichen Ausmaßes, der aber nicht im Rhein versenkt und nie wiedergefunden wurde, sondern ein Schatz, den jeder von uns jederzeit heben kann, und den jede von uns jederzeit veredeln kann, auf dass der Schatz noch schöner leuchte und Zeugnis gebe von dem alten und neuen Wissen der Menschheit.
Meine essayistische Betrachtung hat zwei Teile:
Was ist die Wikipedia im Idealfall? Ich möchte hier die Wikipedia aus der Perspektive des BENUTZERS (nicht der Wikipedianer) beschreiben, gehe also phänomenologisch vor, und da erscheint die Wikipedia zuerst als
ein riesiger Speicher (a.),
der Wissen aufgrund verschiedener Kriterien auswählt (b.),
nach wissenschaftlichen Standards aufbereitet (c.)
und vermittelt (d.)
Kurz gesagt: Wikipedia will meiner Wahrnehmung nach
Wissen a) speichern b) auswählen c) aufbereiten und d) vermitteln.
a) SPEICHERN ‚archivieren‘ ‚Verfügbar halten‘ – Wenn man von ‚Speichern‘ spricht, muss man sich zunächst klarmachen, dass die Wikipedia keine materiellen Dinge speichert, keine Artefakte, sondern Wissen, das in Form von Texten vorliegt, welche dem Leser/ der Leserin das Wissen präsentieren (auch Bilder, die lasse ich aber jetzt mal weg). Diese Texte können sich praktisch unendlich oft materialisieren, nämlich in der Regel auf einem Bildschirm und sie liegen in digitalisierter Form materiell auf irgendwelchen Servern weltweit verstreut (auch die Wikipedia hat also durchaus eine materielle Dimension und ist im Prinzip auch zerstörbar – allerdings wohl nur, wenn unsere ganze Zivilisation untergeht; darüber könnte man auch mal reden, tue ich heute aber nicht – vielleicht nur so viel: Wie einige von Ihnen wissen, gibt es in China ein buddhistisches Kloster, das Wolkenheim-Kloster; dort liegen 15.000 Steintafeln in Höhlen vergraben, in die im Mittelalter im Laufe von 600 Jahren 31 Mill. chinesische Schriftzeichen mit Hand eingemeißelt wurden – der gesamte buddhistische Kanon! Aus Angst vor dem Verlust der buddhistischen Texte beim Weltuntergang! … aber ich sagte ja, ich biete heute keine Lösungen an).
Wikipedia ist also ein riesiger flexibel sich materialisierender textförmiger Wissensspeicher – damit ähnelt die Wikipedia und unterscheidet sich zugleich von den herkömmlichen großen wissenschaftlichen Speicher-Institutionen, etwa die Bibliothek, die Sammlung, das Archiv. Diese Institutionen sind auch Speicher und – nehmen wir die Universitätsbibliothek als Beispiel – auch diese Bibliothek ist ein riesiger Wissensspeicher. Ursprünglich war sie vor allem ein Speicher von einzelnen Artefakten (‚Bücher‘), materiellen Produkten, in denen Wissen – genau wie in der Wikipedia – textuell dargestellt wird. Ein großer Unterschied bestand bislang darin, dass die Bibliothek auf das gedruckte Buch und die Handschrift als materielle Artefakte konzentriert war. Und die Bibliothek bewahrt natürlich nicht nur Texte, die Wissen verfügbar halten, sondern sie bewahrt alle erdenklichen Schriftzeugnisse, auch Romane, Liederbücher usw. Als weiterer Unterschied kommt hinzu, dass die Texte auf Wikipedia zum großen Teil originäre Texte sind, sie wurden also von Autoren speziell für die Wikipedia verfasst – das ist in der Bibliothek völlig anders: Die Texte, die die Bibliothek speichert, werden nicht speziell für die Bibliothek verfasst.
Und doch: Seit einigen Jahren hat die Digitalisierung auch in den Bibliotheken Einzug gehalten und nun entstehen doch wieder Ähnlichkeiten und eben auch Konkurrenzen zur Wikipedia, wie man am Beispiel der 848 Handschriften der Bibliotheca palatina sehen kann. Die UB Heidelberg ist durch Frau Zimmermann und Frau Effinger und Herrn Probst zu einem führenden Zentrum der digitalen Bereitstellung von Texten geworden und im Bereich der Handschriften gibt es ja nicht nur die großen Digitalisierungsprojekte, sondern es werden auch zunehmend Wissenstexte digital verfügbar gemacht, z.B. Beschreibungen aller Handschriften der Bibliotheca Palatina. Die UB als eine Institution der Universität und der Wissenschaft erzeugt dadurch zunehmend ebensolches Wissen wie die Wikipedia. Und gerade dieses Beispiel ist interessant, weil es eben auch die Grenzen der Wikipedia aufzeigt, die dadurch immer enger werden, dass auch die universitären Institutionen im Internet sehr verlässliche Darstellungen ihrer Gegenstände online präsentieren. Man könnte sich ja freuen, dass es auch in der Wikipedia unter dem Lemma: Codices Palatini germanici eine Liste aller 848 Hss. gibt (übrigens ohne deutliche Verlinkung auf der Seite Bibliotheca Palatina). Man darf sich fragen, wie sinnvoll es ist, dass es eine solche Doppelung gibt, zumal von Wikipedia bei jeder Handschrift auf die UB-Seite verwiesen wird, die weitaus umfangreichere Informationen gibt. Auch bei Wikisource, einem Unterprojekt der Wikipedia, gibt es unklare Doppelungen, zumal dieses Vorhaben noch stärkere Ähnlichkeit mit der digitalen Bereitstellung von Büchern hat, wie sie die Bibliotheken anbieten.
Zum Thema ‚Speichern‘ gehört schließlich auch die Frage nach dem Verhältnis von Dynamik und Statik: Wikipedia ist dynamisch, obwohl sie auf etwas Statisches, nämlich den Wissensbestand zielt. Warum man darüber nachdenken könnte, kann man am besten an einem Gegenbeispiel sehen: Ein Nachrichtenportal im Internet ist auch dynamisch, es ändert laufend seine Inhalte, weil Nachrichten, also die Inhalte eben auch dynamisch sind; keiner würde erwarten, dass heute dieselben Nachrichten zu lesen sind wie gestern oder letzte Woche. Vom allgemeinen Wissensbestand zu einen Thema will man aber nicht erwarten, dass er sich ständig ändert, und doch: ein Wikipedia-Artikel kann sich morgen schon ändern. Das ist selbstverständlich auch ein Vorteil, weil dadurch immer wieder neues Wissen in den Speicher eingespeist werden kann. Für die Wissenschaft aber ist es ein Problem. Die Wissenschaft braucht Bibliotheken und Archive und auch einfach Texte, auf deren Unveränderlichkeit man sich verlassen kann. Hier erwartet man von einem ‚Speicher‘, dass er über lange Zeit gleich bleibt, also sich gerade nicht verändert: Wir brauchen verlässliche und das heißt auch unveränderliche Wissensspeicher. Wenn ich z.B. (was ich gerne tue) auf ein gedrucktes Lexikon verweise wie das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (1997–2003), dann weiß ich, dass diese Artikel seit 10, 15 Jahren nicht überarbeitet wurden. Auch auf das, was nicht so gut ist, kann ich mich beziehen. Dieser Speicher ist verlässlich und gibt Orientierung. Der Speicher der Wikipedia dagegen ist durch seine Dynamik auch ein Problem für die Wissenschaft (natürlich lässt sich das auch umdrehen: Es tut ja der Geisteswissenschaft vielleicht ganz gut, wenn ihr Wissen in Fluss kommt und man sich immer wieder auch ganz praktisch vergewissern muss, ob das, was man für unumstößlich hielt, eigentlich noch Konsens ist …).
b) AUSWÄHLEN: ‚Selektion des Wissens‘ – Der Aspekt „Auswählen“ hängt eng mit den nachfolgenden Aspekten „Aufbereiten“ und „Vermitteln“ zusammen, trotzdem versuche ich eins nach dem anderen zu beschreiben. Auch wenn die deutsche Wikipedia inzwischen über 2,1 Mio Artikel hat, ist es keineswegs so, dass jedes Wissen aufgenommen wird; im Gegenteil: Das meiste Wissen, das der einzelne Mensch hat (etwa wo ich einkaufe oder was ich esse oder wohin ich in den Urlaub fahre oder welche besten Freunde ich habe), findet sich nicht in der Wikipedia, weil es ein Wissen ist, das nur persönlich oder nicht dauerhaft ist. Das ist irgendwie selbstverständlich und damit verfährt die Wikipedia ähnlich wie ein herkömmliches Lexikon, eine herkömmliche Enzyklopädie und natürlich auch ähnlich wie andere Massenmedien, die ebenfalls sehr stark, aber nach ganz anderen Kriterien die Informationen filtern, die sie weitergeben.
Aber in Bezug auf die Wissenschaft kann man schon fragen, welches die Selektionskriterien sind, damit ein Wissensbestandteil in die Wikipedia aufgenommen wird oder nicht. Wenn man nochmal an das Beispiel mit den Handschriften denkt: Sollten womöglich alle Daten einer Handschriftenbeschreibung auch in der Wikipedia stehen? Wohl kaum, aber wer bestimmt dann eigentlich, was noch relevant ist und was nicht? Und wenn – wie die Wikipedia sich ja wünscht – mehr Wissenschaftler bei Wikipedia mitarbeiten, würden diese nicht am liebsten alle Informationen, die zu einer Handschrift zu haben sind, auch im Wikipedia-Artikel sehen wollen? Mit dem schon erwähnten Nachteil, dass dann eine Doppelung zu den Bereitstellungen etwa der Bibliotheken entsteht…?
Sehr wichtig ist bei der Selektion der Wissensbestände auf alle Fälle der Grundsatz des neutralen Standpunkts, der in der deutschen Wikipedia – soweit ich sehe – oftmals sehr gut umgesetzt wird. Allerdings liegt hier natürlich auch ein Hund begraben, der im Grunde die Attraktivität der Wikipedia für die Wissenschaft schwächt: Der neutrale Standpunkt führt nämlich durchaus dazu, dass spannende und neue Ideen und alternative Aspekte eines Themas gegenüber der herrschenden Meinung in der Wikipedia eher unterrepräsentiert sind. Zwar sollte die Wikipedia sicher nicht von dem Grundsatz „keine Theoriefindung“ abweichen, also Wikipedia sollte nicht selbst originäre Forschung betreiben, jedoch glaube ich, dass es der Wikipedia sehr gut anstünde, auch neue Ideen möglichst schnell zu berücksichtigen – auch wenn damit einhergeht, dass man, wenn die neue Idee sich als wenig tragfähig erwiesen hat, den Artikel wieder ändern muss (was der dauerhaften Verlässlichkeit Abbruch tut).
c) AUFBEREITEN – Das Aufbereiten des Wissens in der Wikipedia geschieht schon heute weitgehend nach wissenschaftlichen Standards; und in diesem Bereich ist eine große Übereinstimmung mit den genuin universitären Aufgaben festzustellen. Diese bestehen u.a. darin, einen wissenschaftlichen Standard durchzusetzen und aufrechtzuerhalten. Was der wissenschaftliche Standard ist, lässt sich am einfachsten als Praktiken beschreiben, von denen ich die wichtigsten hervorheben möchte – und sie gelten eben alle auch für die Wikipedia:
Alle fünf Punkte sind meines Erachtens gesellschaftlich ungemein wichtig, weil für viele Benutzer die Wikipedia so etwas darstellen dürfte wie ein Standard, an dem man sich orientiert, ein Standard, wie man mit Wissen umgeht, wie man es aufbereitet und sprachlich darstellt. Schon auch deswegen ist es klar, dass die (Geistes)WissenschaftlerInnen unbedingt mitmachen müssen bei Wikipedia (ich komme gleich drauf zurück).
Das Aufbereiten des Wissens führt durch seine Vorbildfunktion direkt zum letzten Aspekt:
d) VERMITTELN – Die Wikipedia kann die Kluft zwischen den wissenschaftlichen Spezialdiskursen und dem öffentlichen Diskurs, dem Allgemeinwissen überbrücken. Ich halte Wikipedia inzwischen für die wichtigste Brücke, die der Wissenschaft hierfür zur Verfügung steht (deswegen hat der SFB 933 auch ein Teilprojekt Öffentlichkeitsarbeit, deren Aufgabe es unter anderem ist, den Kontakt zur Wikipedia aufzubauen und lebendig zu halten). Wikipedia hat dabei im Grunde eine Funktion wie die Schule (oder auch die Volkshochschule), Institutionen, die u.a. einer solchen Vermittlung von Wissen dienen. Ganz besonders wichtig ist dabei, dass Wissenschaft verständlich präsentiert wird. Auch hier nochmal ein Lob an die Wikipedianer: Ich habe kaum je einen Wikipedia-Artikel gelesen, den ich nicht verstehen konnte, weil er zu kompliziert oder in einem dunklen Stil geschrieben war. Das muss auch mal gesagt sein. Und was auch zur Vermittlung gehört, ist das wunderbare Instrument des Hyperlinks, der ja in erster Linie dazu dient, mir Namen und Begriffe, die ich als Leser nicht kenne, zu erläutern, mit dem ich aber auch auf eine Reise durch die Wissenswelt gehen kann, auf der – ich gestehe es – auch ich mich schon verloren oder auch ganz überraschende Dinge entdeckt habe.
Unter dem Aspekt der Vermittlung muss man aber auch sagen: Je besser die Wikipedia wird, desto schlechter wird sie. Soll heißen: je komplexer und umfangreicher die einzelnen Artikel werden, desto weniger werden sie ganz gelesen, womit der Vermittlungsaspekt irgendwie geschwächt wird … hier müsste in Zukunft noch stärker auf eine Abstufung der Beiträge hingearbeitet werden: Kurzzusammenfassungen, aussagekräftige Gliederungen usw.
Ein weiteres großes Problem aber entsteht, gerade wenn man Wikipedia im Vergleich mit der Schule sieht: Bei Wikipedia fehlt die Figur des Lehrers oder der Lehrerin! Wie man das auffangen kann, weiß ich nicht, außer vielleicht dadurch, dass zumindest an der Universität die WissenschaftlerInnen sich neu darauf besinnen, dass ihre Hauptaufgabe nicht in der reinen Wissensvermittlung besteht, sondern darin Lehrer und Lehrerinnen zu sein! Damit komme ich zu meinem zweiten Teil:
(und es sei darauf hingewiesen, dass das, was sich hier bisher ereignet hat – falls sich zwischen Ihnen und mir etwas ereignet hat – gerade nicht Wikipedia-förmig ist: Mitdenken, Entwicklung von Argumenten in einer Rede, Widerspruch erzeugen, der Versuch zu begeistern usw. – das kann die Wikipedia nicht, das kann kein Speicher (a.), der Wissen aufgrund verschiedener Kriterien auswählt (b.), nach wissenschaftlichen Standards aufbereitet (c.) und vermittelt (d.). Dazu brauchen wir zum Glück noch unseren Kopf, unsere Kreativität und den Kontakt zwischen Menschen.)
Ich möchte im Folgenden eine „neue Wissenschaft“, einen neuen Typus des/r Wissenschaftlers/in, gedanklich ausprobieren, eine Utopie entwickeln für
a) eine dynamische Wissenschaft der Praktiken,
b) eine gemeinschafts-orientierte Wissenschaft und
c) eine sich öffnende
a) Eine dynamische Wissenschaft der Praktiken – Statt ‚Wissen haben‘ sollte künftig das ‚wissenschaftliche HANDELN‘ im Vordergrund stehen, d.h. eine Konzentration auf Praktiken des Umgangs und der Entwicklung von Wissen: ‚mit Wissen umgehen und Wissen erweitern‘.
Der traditionelle (Geistes)Wissenschaftler (der ‚Gelehrte‘) besteht – vereinfacht gesagt – aus zwei Dimensionen:
1) Verfügung über großes und spezialisiertes (Fakten)Wissen: Der Wissenschaftler weiß sehr viel.
2) Beherrschung von wissenschaftlichen Praktiken (Handlungsroutinen): Der Wissenschaftler kann sehr viel, nämlich (ich ordne die Praktiken in drei Gruppen): a.) [rezipierend] Lesen, Exzerpieren (Selegieren), Ordnen, aber auch ‚Sich irritieren lassen‘, Sich-Wundern, Staunen – b.) [verarbeitend] Fragen, Denken, Argumentieren (Schlüsse ziehen), Ausprobieren, Thesen entwickeln, verifizieren – c.) [produzierend] Schreiben, Reden, Gespräche führen, Lehren, Unterrichten usw.
Die erste Dimension ‚Verfügung über WISSEN‘ wird in Zukunft weniger wichtig sein –und das empfinden sicher manche KollegInnen als Angriff auf ihr Selbstverständnis. Ich meine nicht, dass der zukünftige Wissenschaftler nichts mehr weiß, weil alles bei Wikipedia steht (das wäre unsinnig), aber dass er selbst über umfassendes und detailliertes Wissen ‚auswendig‘ verfügt, wird nicht mehr seine wichtigste Qualität sein, Wissen zu haben wird nicht mehr so im Vordergrund stehen. Das scheint mir übrigens auch ein Grund, warum die Wissenschaft bei Wikipedia nicht so stark mitmacht, weil die Wikipedia ihnen etwas wegnimmt: exklusives Wissen, die Rolle und das Ansehen als gelehrter Professor – böse gesagt: der Professor braucht eine schlechte Wikipedia!
Viel wichtiger werden in Zukunft die Praktiken. Das ist die Herausforderung für den Wissenschaftler. Denn das kann die Wikipedia nicht, sie macht selbst keine Wissenschaft, sie lehrt und diskutiert auch nicht. Und Praktiken auszuüben heißt letztlich: zu denken, Wissen zu hinterfragen, zu problematisieren, wieder auf neue Ideen zu kommen und schließlich wieder Wissen zu produzieren.
b) eine gemeinschaftsorientierte Wissenschaft
Ich bin überzeugt, dass die Zukunft der Wissenschaft in der Orientierung auf Gemeinschaft liegt. Dabei meine ich nicht, dass man nur noch kollaborativ und im Team arbeiten soll. Gerade der Geisteswissenschaftler ist häufig auch einer, der alleine arbeitet und alleine arbeiten muss. Aber: was ist seine Orientierung? Welches Ziel verfolgt er?
Wikipedia ist ein kollaboratives Projekt und ich glaube, es weist damit der (Geistes)Wissenschaft den Weg. Die Orientierung unserer Wissenschaft muss gemeinschaftlich sein. Es geht nicht um den einzelnen [nb: im Folgenden spreche ich von den auf Lebenszeit verbeamteten deutschen ProfessorInnen!]. Gefragt sind nicht mehr die Alphatiere und großen Egos, die ihre Claims abstecken und um die Erstpublikation kämpfen, die Entdeckungen und neue Erkenntnisse aus Angst lange zurückhalten und verbergen, weil sie vor der Community Ruhm ernten wollen und dann mit diesem Ruhm wieder Forschungsgelder kumulieren, von denen sie Dutzende von prekär beschäftigen Mitarbeitern bezahlen, die von ihnen abhängig sind und ebenso ängstlich darauf bedacht sind, ‚ihr‘ Ding zu sichern. Wenn es einen Grund gibt, dass Professorinnen und Professoren in Deutschland verbeamtet sind, dann ist es für mich der, dass sie dadurch nicht mehr für sich und ihren Lebensunterhalt kämpfen müssen, sondern dass sie persönlich ausgesorgt haben und dass sie damit die verdammte Pflicht haben, sich für die Gemeinschaft und nicht für ihren eigenen Ruhm zu engagieren!
Ich mag allen ProfessorInnen sagen: Stellt Eure Fähigkeiten in den Dienst der Gemeinschaft, freut Euch, wenn das Wissen vermehrt wird und die Wikipedia besser wird! Nehmt Euer Amt ernst und werdet zum Diener! Verschenkt Euer Wissen und Eure Ideen! Seid froh, wenn das, was wichtig und spannend und gut ist, auch von anderen erforscht wird! Tut es gemeinsam! Spornt Euch an!
c) eine sich öffnende Wissenschaft
Wikipedia hilft, universitäres Wissen unter die Leute zu bringen, und damit Aufklärung zu betreiben gegen die Verirrungen des modernen Menschen, gegen Vorurteile. Konkret heißt das: zusammenarbeiten mit Laien, die interessiert und aufrichtig sind. Die neue Wissenschaftlerin muss offen sein und helfen, sich der Community der Wikipedianer anbieten. Der neue Wissenschaftler muss auch Wikipedianer sein, muss schreibend sich einbringen in die Darstellung des Wissens von seinen Gegenständen.
Warum tun sie es (bisher) nicht? Es gibt technische Barrieren, klar, aber das müsste zu machen sein. Das Haupthindernis ist meiner Ansicht nach die mangelnde Gratifikation. Es ist ähnlich wie bei der universitären Lehre: Weil sie in der universitären Prioritätenliste ziemlich weit unten steht, weil sie nicht mit Gratifikationen verbunden ist, weil in der akademischen Karriere kaum nach den Leistungen in der Lehre gefragt wird, kümmern wir AkademikerInnen uns (leider, leider) nicht genug um die Lehre. Und so ist es auch mit der Wikipedia.
Man muss also die Reputation von Wikipedia steigern! Meine Forderung: An jedem Institut, an jeder Professur und jeder zentralen wissenschaftlichen Einrichtung muss es einen Wikipedia-Beauftragten geben (das kann ruhig auch ein Professor sein) – ähnlich wie „Wikipedian in residence“, nur viel flächendeckender und informeller. Dessen speziellen Themenschwerpunkte müssen veröffentlicht werden, so dass jeder, der an einem Artikel aus diesem Spezialgebiet in der Wikipedia schreibt, sich an diesen Experten wenden kann (niederschwellige Vernetzung). Die Arbeit der Wikipedia-Beauftragten muss dokumentiert werden, so dass sich damit eine Gratifikation verbindet, zumindest eine Quantifizierung des Aufwands (vielleicht kann auch gezählt werden, an wie vielen exzellenten Artikeln der Wiki-Beauftragte maßgeblich beteiligt war).
Soweit meine unmaßgeblichen Gedanken. Ich hoffe, wir können darüber diskutieren. Ich danke Ihnen.
(Ludger Lieb 2017)
Kontakt: ludger.lieb [at] gs.uni-heidelberg.de
Das Gedächtnis der Universität | [Bericht lesen] |
Am 11. Januar hatte die Veranstaltungsreihe „Heidelberger Schriftstücke“ ihren Auftakt im Universitätsarchiv. Der Leiter des Archivs, Ingo Runde, eröffnete die Stunde im Archiv mit Zahlen und Ereignissen aus dessen Geschichte. Seine Kollegin Heike Hawicks präsentierte Ergebnisse einer Studie des Archivs zur Verwendung von Papier und Pergament im ausgehenden Mittelalter. Im Anschluss zeigte Herr Runde ausgewählte Dokumente des Archivs. |
von Nele Schneidereit und Christiane Schröter
Eine schlichte Wendeltreppe im hinteren Bereich des Vortragsraumes führt in das Untergeschoss des Heidelberger Universitätsarchivs. Unten angekommen, kann man die Hand an die dicken Riegel der Tresortür legen – wir befinden uns in einem ehemaligen Bankgebäude. Die 4.500 Regalmeter des Archivs sind in einer gut gesicherten Anlage unter mehreren Häusern der Innenstadt untergebracht.
Das Archiv wird 1388 erstmals erwähnt. In diesem Jahr legte der erste Rektor der Universität, Marsilius von Inghen, Urkunden und Verträge in eine kleine Kiste. Sie wurde hinter dem Altar der Heiliggeist-Kapelle in der sogenannten Universitätstruhe verwahrt. Inzwischen ist das Archiv der ältesten Universität Deutschlands sehr groß, und es wächst beständig weiter. Personenbezogene Dokumente finden sich hier ebenso wie Verzeichnisse, Urkunden und Bilder; Flugblätter, Siegel und Stempel sowie sogar die Totenmaske eines ehemaligen Rektors gehören zum Bestand des Archivs.
Die zwölf Teilnehmer treten durch die hinter der Tresortür liegenden Stahltür. Die Räume sind niedrig, die Luft ist trocken. Die Regale, in denen dicht an dicht graue Pappschatullen liegen, nehmen fast den gesamten Platz ein. Wir verteilen uns um ein in der Mitte stehendes Archivmöbel, auf das Herr Runde und Frau Hawicks mehrere Mappen und Kartons gestellt haben. Herr Runde zieht sich die bereitliegenden weißen Stoffhandschuhe über. Mit geübten, aber stets behutsamen Griffen öffnet er Behälter für Behälter.
Wir sehen die Gründungsurkunde der Universität, eine sieben Meter lange Bitte um mehr Mittel aus Rom, Rektoratsbücher aus dem Mittelalter – eins davon aus Pergament mit Knochenlöchern –, Entwürfe für das Banner der Universität und Abgüsse der Universitätssiegel.
Immer wieder weisen Frau Hawicks und Herr Runde auf Besonderheiten des Materials hin. So hat ein Stück Pergament eine Ergänzung durch ein aufgenähtes Stück Papier erhalten.
Zu erkennen ist darin nicht nur der Übergang von Pergament zu Papier, sondern auch zur Aktenhaftigkeit der gelagerten Bestände. Dokumente wurden nicht neu angelegt, sondern am Material selbst ergänzt. Nun jedoch mit Papier. Ein anderes Dokument erklärt die Verwendung von Papier mit den hohen Kosten von Pergament.
Einige der im Archiv verwahrten Schriftstücke sind erst nach ereignisreichen Reisen oder auf Umwegen dorthin gekommen. Herr Runde erzählt die Geschichte einer Papstbulle aus dem Jahr 1387, also aus der Gründungszeit der Universität. Dieses Dokument befand sich auf einer nach dem Zweiten Weltkrieg erstellten Verlustliste. Im Jahr 2014 tauchte es wieder auf – es lag auf einem Dachboden in St. Louis in den USA. In einer vom Institut für Haltung von Archivgut eigens für die Bulle angefertigen Box, trat sie die Reise nach Heidelberg an. Sie wurde in Chicago von Schneechaos aufgehalten und legte einen Zwischenstopp in Berlin ein. Jetzt liegt sie vor uns.
Nach einer Stunde klappt Herr Runde die letzte Mappe wieder zu. Wir kehren zurück in den Vortragssaal – ganz verwundert, welche Schätze sich unter Restaurants, Boutiquen und Banken in der Heidelberger Altstadt befinden.
Eine Teilnehmerin notiert sich noch den nächsten Termin. „Das war toll. Ich mache aber lieber keine Werbung für die Veranstaltung“, sagt sie lachend. „Da verringere ich ja meine Chancen, wiederkommen zu dürfen.“ Es geht in das Kurpfälzische Museum zu einem Original der Ode von Hölderlin auf Heidelberg.
Informationen zum Universitätsarchiv: www.uni-heidelberg.de/uniarchiv
Nächster Termin der Reihe Heidelberger Schriftstücke:
8. Februar 2018, 17-18 Uhr, Kurpfälzisches Museum
Informationen zur Reihe „Heidelberger Schriftstücke 2018“ finden Sie hier.
Kontakt:
Dr. Nele Schneidereit: nele.schneidereit[at]uni-heidelberg.de
Prachtvolle Manuskripte, unsichtbare Tintenflecke, legendäre Raben – Eine Reise nach Mitteldeutschland | [Bericht lesen] |
Eine Gruppe von 25 Heidelberger Studierenden und Dozenten erkundete im Rahmen der interdisziplinären Exkursion „Mittelalterliche Handschriften, Schätze, Dome und Burgen“ vom 23. bis zum 26. Juni 2017 Bibliotheken und Kulturdenkmäler in Leipzig, Erfurt, Naumburg, Merseburg, Gotha und Eisenach. Die Gruppe setzte sich aus den Bereichen der Heidelberger Fächer Germanistik, Kunstgeschichte und Mittellatein zusammen. Die Exkursion wurde von Ludger Lieb (Germanistische Mediävistik), Tobias Frese (Mittelalterliche Kunstgeschichte) und Tino Licht (Mittellatein) geleitet. |
Gastbeitrag von Katharina Gruenke und Stefan Bröhl
Im Vordergrund der Exkursion stand die direkte Erfahrung mit unterschiedlichen materialen Textkulturen und deren Formen. Die Begegnung mit den Text- und Bildzeugnissen des Mittelalters wurde durch Referate von Studierenden begleitet.
Die ersten Türen, die sich der Gruppe öffneten, waren die der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Leipzig.
Nachdem der Abteilungsleiter, Dr. Christoph Mackert, in die Geschichte des Bestandes eingeführt hatte, konnten die studentischen Referenten ihre Ausführungen direkt an den mittelalterlichen Objekten belegen. Eine ungewöhnliche Situation. Hat man doch sonst selten die Gelegenheit, eine Pergamenthandschrift von Walahfrid Strabos Hortulus aus dem 10. Jahrhundert mit althochdeutschen Glossen (Rep. I. 53) oder ein echtes Fragment von Wolframs Willehalm aus der Zeit um 1300 (Ms. 1614, Bl. 12–13) tatsächlich vor sich zu haben und zu berühren, ja als reales Textzeugnis wirklich lesen und ‚begreifen‘ zu dürfen.
Als fruchtbar erwies sich zudem, dass die Handschriftenvorstellungen reihum von den Dozenten aller drei Disziplinen durch paläographische, philologische und kunstgeschichtliche Details ergänzt wurden. Immer wieder schienen dabei ganz neue Forschungsdesiderate auf, die sich aus dem interdisziplinären Zusammenspiel erhaben.
Wie weit die Bedeutung der Materialität gehen kann, und wie erkenntnisreich der direkte Kontakt mit einem Textzeugen sein kann, zeigte sich eindrucksvoll am Beispiel eines Psalters aus dem 11. Jahrhundert (Ms 774). Hier stehen z. B. auf einer Doppelseite Christus in der Mandorla links und die Kreuzigung Christi rechts so einander gegenüber, dass sich beim Schließen des Buches die beiden Körper (und somit der himmlische und irdische Christus) übereinanderlegen. „Total irre“ war dann auch ein begeisterter Kommentar dazu. Dass es mit der praktischen Lesbarkeit der damaligen Texte auch seine Tücken haben kann, zeigte sich anhand der „greifbaren“ Materialität der Bechsteinschen Handschrift (Ms. Apel 8); hier ließen es sich einige nicht nehmen, einen Hebetest an dem fast 800 Seiten umfassenden Codex vorzunehmen. Ergebnis: Für den Strandurlaub ist das nichts.
Dass allerdings auch die Leichtigkeit heutiger Papierseiten nicht nur Vorteile hat, durften die Teilnehmer später bei den Referaten an zugigen Ecken von Domen und Burgen erfahren, wo sich manches Handout selbständig machte.
Der zweite Tag führte die Gruppe an den Naumburger Dom mit seinem berühmten Lettner und den geradezu ikonischen Stifterfiguren und den Glasmalereien im Ostchor, in denen das tags zuvor bereits in gemalter Form gesehene Motiv des Tugendbaums wieder auftauchte.
Für Überraschung sorgten in Merseburg, dem abschließenden Ziel des zweiten Tages, zunächst die in einer Außenvoliere am Dom lebenden Raben. Der Sage nach haben sie ihren Ursprung im 15. Jahrhundert. Neben der einzigartigen Bronzegrabplatte des Gegenkönigs Rudolf von Rheinfelden und dem Hauptgestühl des Chors, dessen Bildprogramm Szenen des Alten und Neuen Testaments präfigurativ verknüpft, wurden auch hier wie bereits in Naumburg Baugeschichte und Architektur besprochen und kulturgeschichtlich eingeordnet. In der Domschatzkammer fanden die mumifizierte Hand des Gegenkönigs und die berühmten Merseburger Zaubersprüche besonderes Interesse, die zwar ‚nur‘ als Faksimile vorlagen, aber in einem eigenen Gewölbe mitsamt ihrer Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte aufbereitet waren.
Am Sonntag führte der Weg nach Erfurt. Nach einem Gang über die berühmte Krämerbrücke ging es zuerst in das Museum der alten Synagoge. Dort liegt der berühmte jüdische Schatz von Erfurt, der erst 1998 durch Zufall gefunden wurde und Anwärter auf den Status als UNESCO-Weltkulturerbe ist. Der Schatz bot mit seinen filigranen Meisterwerken der Schmiedekunst sehr viel Anschauungsmaterial für Formen materialer Textkultur. Besonders stach ein aus etlichen Einzelteilen bestehender Hochzeitsgürtel mit – bislang noch nicht eindeutig entschlüsselten – Inschriften hervor.
Nach dem Besuch der beiden direkt nebeneinandergelegenen monumentalen Dombauten in Erfurt, führte der letzte Tag der Exkursion wieder zurück zu den Handschriften des Mittelalters. In der Forschungsbibliothek Gotha wurden sechs Handschriften präsentiert.
Man konnte gut sehen, wie viele Bezüge es zwischen den bereits besuchten Artefakten gibt. Das Elisabethleben, hier in der deutschen Fassung von Johannes Rothe, sollte sich später am Tag noch plastischer in ganz anderer Form präsentieren, hatte ebendiese Heilige doch auf der Wartburg, dem letzten Ziel der Reise, viele Jahre ihres Lebens verbracht. Auf der Wartburg schließlich bestaunte man neben den vielen sichtbaren Luther-Memorabilia auch ein nicht sichtbares – den nicht vorhandenen berühmten Tintenfleck. Der Legende nach soll Luther – in Schreibarbeit vertieft – den Teufel durch den Wurf mit einem Tintenfass zu vertreiben gesucht haben.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren sich am Ende des Kultur-Parcours‘ in Mittel- und Ostdeutschland einig, dass es noch viel zu entdecken gäbe, dass des Forschens kein Ende und dass theoretisches Wissen schön und gut ist – die Begegnung mit dem Original aber nicht ersetzen kann; es kann die Begegnung aber hervorragend ergänzen. Insbesondere dann, wenn das Wissen interdisziplinär an die Artefakte herangetragen wird.
Kontakt:
Katharina Gruenke (katharina.gruenke[at]agquadrat.de)
Stefan Bröhl (stefan.broehl[at]onlinehome.de)
Praxis-Workshop Marmor. Ein Bericht in Bildern. | [Bericht lesen] |
Vom 2. bis 9. April 2017 veranstaltete der SFB 933 gemeinsam mit dem Deutschen Archäologischen Institut (DAI) Istanbul einen praxisorientierten Workshop zum Thema „Materialität von Marmor als Schriftträger und seine Wiederverwendung als Spolie im städtischen Raum“. Text: Stephan Westphalen |
In Istanbul sind zahlreiche beschriftete Steinartefakte erhalten. Historiker, Kunsthistoriker, Archäologen und Philologen veranstalteten gemeinsam einen Workshop, bei dem sie mit einem interdisziplinären Ansatz besichtigt wurden. Die Artefakte decken einen über 3000jährigen Zeitraum ab und wirken – früher wie heute – als Schriftträger im städtischen Raum. Man findet neben ägyptischen Hieroglyphen auf einem Obelisken, griechische und lateinische Inschriften sowie die arabischen Kalligraphien der osmanischen Bauten. Sogar Runen hat ein durchreisender Waräger (aus Skandinavien stammender Händler) als Graffito in der Hagia Sophia hinterlassen.
Mit einem Ausflug auf die Marmara-Insel konnte der Gewinnung des prokonnesischen Marmors in den heute noch intensiv genutzten Steinbrüchen nachgegangen werden. Auf der Insel wurden in der Antike sowohl Halbfabrikate als auch fertige Marmorteile produziert, die auf arbeitsteilig organisierte Werkstätten schließen lassen.
Benjamin Allgaier hat im Interview bereits über seine Eindrücke von dem interdisziplinären Workshop berichtet. Hier folgt ein Bericht in Bildern:
![]() |
(1) Das Marmara-Meer mit der als malmora bezeichneten Marmara Adası, der antiken Prokonnesos. Venezianische Portolankarte aus dem Cornaro-Atlas, ca. 1488. |
Produktion – Besuch der Marmara-Insel
![]() |
(2) Teilnehmer des Workshops im Museumsgarten von Saraylar auf Marmara Adası mit Halbfabrikaten aus der spätantiken Produktion. | |
![]() |
(3) Typisches Halbfabrikat eines korinthischen Säulenkapitells des fünften oder sechsten Jahrhunderts n. Chr., das zur Fertigstellung in einer spezialisierten Werkstatt Konstantinopels vorgesehen war. | |
![]() |
(4) ‚Lehrstück‘ eines Säulenkapitells mit unterschiedlichen Oberflächen der Bearbeitung: Von der Bosse im oberen Teil über geglättet angelegte Blätter bis hin zu fertig, unter Einsatz von Bohrern, ausgearbeiteten Akanthusblättern. | |
![]() |
(5) Fertig ausgearbeitetes ‚Ionisches Kämpferkapitell‘ des fünften Jahrhunderts n. Chr. | |
![]() |
(6a und 6b) Aufgelassene Gebäude einer 1912 gegründeten und 1930 wieder eröffneten Marmorfabrik mit den Maschinen einer Steinsäge. | |
![]() |
||
![]() |
(7) Moderner Steinbruch mit gesägten Blöcken. | |
![]() |
(8) Auf dem Weg zur Wertsteigerung: Transport von Marmorblöcken von der Insel auf das Festland |
Marmor-Monumente, chronologisch geordnet
![]() |
(9a und 9b) Kyzikos. Den monumentalen Zeustempel ließ Hadrian (117-138 n. Chr.) auf einem Podium als Dipteros in korinthischer Ordnung aus prokonnesischem Marmor erneuern. | |
![]() |
||
![]() |
(10a) Der Theodosios-Obelisk im ehemaligen Hippodrom Konstantinopels stammt aus dem Tempel des Amun-Re in Karnak und trägt hieroglyphische Inschriften Pharaos Thutmosis III. (1486-1425 v. Chr.). | |
![]() |
(10b und 10c) Auf der unteren Marmorbasis wird die technische Meisterleistung der Aufrichtung sowohl bildlich als auch textlich gewürdigt, die nach Auskunft der beiden Inschriften 30 bzw. 32 Tage dauerte. Möglicherweise ist die abweichende Zahlenangabe durch das Versmaß der auf Griechisch in zwei elegischen Distichen bzw. auf Latein in fünf lateinischen Hexametern verfassten Inschriften bedingt. | |
![]() |
||
![]() |
(10d) Der Name des verantwortlichen Stadtpräfekten Proclus wurde im Zuge einer damnatio memoriae eradiert und nach einer postumen Rehabilitierung wieder eingesetzt. | |
![]() |
(10e) Auf der oberen Marmorbasis ist die Kaiserloge des Hippodroms dargestellt, in der sich Theodosios (379-394 n. Chr.) mit seinem Hofstaat dem Volk Konstantinopels zeigt. | |
![]() |
(11a, 11b und 11c) Die ‚Gotensäule‘ wurde im fünften oder sechsten Jahrhundert n. Chr. unter Verwendung älteren Materials auf der Seraylspitze in Istanbul aufgestellt: Das Kapitell ist kaiserzeitlich und wie der ca. 15 Meter hohe monolithe Säulenschaft aus prokonnesischem Marmor gearbeitet. Auf dem Sockel befindet sich eine teils eradierte lateinische Inschrift. | |
![]() |
||
![]() |
||
![]() |
(12) In der Sergios- und Bacchoskirche wird der Stifter Justinian (527-565 n. Chr.) und Theodora durch ein den Raum umlaufendes Epigramm gedacht. | |
![]() |
(13) In der Hagia Sophia (532-537 n. Chr.) ist dasselbe Stifterpaar dagegen nur durch Namensmonogramme auf den Säulenkapitellen präsent. Bilder der Monogrammkapitelle sind zusammen mit einem interaktiven Plan des Innenraumes der Hagia Sofia online publiziert: http://hagiasophia.materiale-textkulturen.de/ | |
![]() |
(14) In der Chorakirche (zwischen 1316-1327 n. Chr.) wird ein Dekorationssystem aufgegriffen, das bereits in Bauten des sechsten Jahrhunderts wie der Hagia Sophia umgesetzt wurde: Die Wände sind mit Marmorplatten inkrustiert, die Gewölbe mit Goldgrundmosaiken versehen. | |
![]() |
(15) Subtiler Materialwechsel vom grauen Kalkstein zum fast gleichfarbigen Marmor: Der Mittelrisalit zum Vorhof der Mosche Sultan Süleymans des Prächtigen (1520-1566 n. Chr.) mit Muqarnas-Nische und vergoldeter arabischer Kalligraphie. |
Interview with Michele Luigi Vescovi (09.06.2017): Bodies, Images, Inscriptions. | [Bericht lesen] |
An interview with art historian Michele Luigi Vescovi from the University of Lincoln (UK), who was visiting the CRC 933 in the month of May, 2017. |
Michele, you are here as a guest researcher for three weeks. How did you get in contact with the CRC 933?
I met Wilfried Keil, member of subproject A05 “Script and Characters on and in Medieval Artwork”, at a conference in Bamberg in 2013. Afterwards, I invited him as a speaker in a workshop on the interactions between holy bodies, spaces and images I have organised at the University of York. Since then, we meet every year and work together on our related projects. The work of Wilfried and his colleagues Kristina Krüger, Tobias Frese, and Matthias Untermann (all members of subproject A05) has been seminal for my own work.
Which are the connections between their research and your present projects?
Currently, I mainly work on two roughly interlinked projects. One deals with “The Contested Body”. I explore how the presence of holy bodies in churches in Western Europe, from 9th to 12th century, has been made evident through images, inscriptions and architecture. In a second project, I work on the connections between liturgy and monumental sculpture in the twelfth century.
Both of these projects are akin to those of CRC 933 subproject A05 in that they are about the interrelations of space, inscriptions, architecture, liturgy, and intellectual ideas.
What have you been doing during your time at Heidelberg?
Ohhh (laughing), I had a wonderful time working in the library! Also, I went on short trips with Wilfried. We visited churches and their many inscriptions in Trier, Mainz, Worms, Strasbourg and Speyer. But aside from that I had a very inspiring time here because of the workshop on Relics, Inscriptions, and ecclesiastical space in the Middle Ages. I had the opportunity to talk to the CRC’s Medieval Latinists Kirsten Wallenwein and Tino Licht, both working on relics and their labels.
As one of the first results of my time here, very much inspired by the results of Materiale Textkulturen, I started to think about not only how the presence of holy bodies is evoked by images and their inscriptions, but also how images become present as images through inscriptions.
You held a presentation about the physical presence of the holy bodies in medieval churches. What is the nature of these inscriptions and how could they invoke presence?
Recently, I was very much concerned with the church of St Emmeram in Regensburg, which claimed, around 1050, to possess the body of St Dionysius (the same is of course claimed by the famous abbey of St Denis in the North of Paris). I am not interested in finding out whether the body actually was there, but in the way in which its presence was constructed. My thesis is that this was done by the interplay of architecture, images and inscriptions. The deep meaning of the inscriptions, in particular, could be unravelled through the analysis of the manuscripts held in the library of St Emmeram.
Could you give an example?
Yes, of course. In the portal of St Emmeram we find three carvings of St Dionysius, St Emmeram and Christ. The inscriptions state things about the person depicted in hexameters. The name of Christ and the Saints appears somewhere on the image’s head level. Thus, the wording is pretty much predefined by material, layout and metric. On the semantic layer the St Dionysius inscription tells us that the image makes the presence of the saint visible. I find it very interesting that the inscription itself discusses the image and its effect.
Do all three inscriptions refer to the image in this way?
No. Namely, even more exciting is the inscription of the image of Christ. Christ is referred to as rock and it is emphasized that the image is made of rock (saxo). Now, this is quite unusual. You would expect the metaphor of Christ as stone (lapis); ‘rock’ sounds raw. Moreover, in this case the metaphor of rock is metonymically enhanced by the material of the image. As many scholars before me, I was puzzled by this.
But then, I turned to the manuscripts of St Emmeram’s library. And there I found the corresponding passage. Most likely, the inscription refers to Deuteronomy 32:13 – God made honey and oil flowing from rocks – and to the exegetical commentaries on this passage. I think that the reference to rock in the inscription was supposed to give more substance to the body of Christ in the image. In any case, we can trace connections between the materiality of images and contemporary intellectual concepts.
How did the architecture of the church support the presence of the holy body?
The three images are located on the upper side of the double portal on the flank of the church. The images of St Emmeram and St Dionysius, whose bodies the church claims to hold, are on the right and left sides of the doors, while the image of Christ is situated between the doors. We don’t really know why there are two entrances. It is very unusual, too. However, the position of the carvings of the two saints corresponds to the location of their tombs at both ends of the inner space of the church.
You and your colleagues from subproject A05 assume a fairly sophisticated and intriguing concept of ecclesiastical space in your research. Do you think people in the Middle Ages recognized sacred spaces like a church as this entanglement of intellectual concepts, inscriptions, architecture and practices?
We will never know the extent to which they did this consciously. In addition, we have to keep in mind that all we have now is very much a fraction of what originally existed. We don’t have all the images, inscriptions, manuscripts, and so forth. However, we have good reasons to suggest that, in the Middle Ages, there were specific connections between communities and sacral spaces, which were implemented in liturgical practices. In my project on Romanesque portals I explore the relationship between portals and liturgical performance. Kristina Krüger from the CRC 933 has proven this sort of connection between liturgy and architecture in relation to the Cluny abbey in France. She discussed the processions described in monastic customaries, focusing on the station held in front of the church, whose meaning she was able to connect with certain architectural features of Cluniac abbeys. Inspired by her research, and focusing on the portal of Beaulieu-sur-Dordogne, I explored how liturgical texts might explain the selection of particular scenes carved on the portal, but also how the portal itself was activated by the monastic community through the liturgy performed in front of it. My article on this topic appeared very recently on Gesta.
Thank you for your time! I am very pleased to hear that there is such a fruitful cooperation between you and our art historical subproject A05.
About:
Dr. Michele Luigi Vescovi is senior lecturer in the School of History & Heritage at the University of Lincoln. His research focusses on the transmission of cultures, visual translations and the creation of identities in processes of exchange between North and South, East and West in the Middle Ages with an emphasis on 11th and 12th century. He is especially concerned with 11th century architecture and its connections to contemporary intellectual concepts and their presence in sacral spaces.
Email: MVescovi[at]lincoln.ac.uk
Dr. Nele Schneidereit is research coordinator of the CRC 933.
Ausstellung: Zerknitterte Pergamentstückchen, Palimpseste und Buchumschläge | [Bericht lesen] |
Im Mainzer Dom- und Diözesanmuseum wurden von März bis Juni 2017 Zeugnisse früher Mainzer Schriftlichkeit ausgestellt. Neben großen Torinschriften und prachtvoll gearbeiteten Bibeln finden sich Blätter und Bücher, die deutliche Spuren unachtsamen Gebrauchs oder nachlässiger Aufbewahrung zeigen. Die Heidelberger Mittellateinerin Kirsten Wallenwein lässt bei ihrer Führung durch die Ausstellung gerade diese – auf den ersten Blick weniger kostbaren – Exponate in hellem Licht erstrahlen. |
Es war einmal eine Zeit, da war die Stadt Mainz ein Zentrum gelehrter Schriftlichkeit. Im Dom zu Mainz befand sich eine Bibliothek, die unermessliche Schätze bewahrt haben muss. In den 1790er Jahren wurde Mainz jedoch einer der Schauplätze der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem revolutionären Frankreich und Preußen. Im Sommer 1793 verbrannte die gesamte Bibliothek. Das frühmittelalterliche Schrifttum der Stadt Mainz ist daher nur in den Stücken erhalten, die sich nicht in der Bibliothek befanden oder die aus Stein waren: Entliehene, gestohlene oder zweitverwertete Bücher (Codices) sowie Schriftstücke, die aus anderen Gründen nicht in der Bibliothek aufbewahrt wurden, sowie Inschriften an Bauwerken oder auf Grabsteinen.
Die Ausstellung im Dom- und Diözesanmuseum, die in Kooperation mit dem SFB 933-Teilprojekt zu Reliquienauthentiken konzipiert wurde, hatte das Ziel, die Reichhaltigkeit des frühen Mainzer Schrifttums zu zeigen. Der Titel „In Gold geschrieben“ ist Programm. Zu gleich ist er irreführend: Neben kostbar ausgestatteten Mainzer Codices finden sich vor allem Dokumente schlicht gehaltener Gelehrsamkeit und Gebrauchsschriftgut. Doch auch diese einfach gehaltenen Schriftstücke zeigen sich in der Ausstellung in ihrer Seltenheit und Schönheit. Kirsten Wallenwein, Postdoktorandin im SFB 933-Teilprojekt, führt durch die Ausstellung.
Wir betreten die dunkel verkleideten Ausstellungsräume mit Blick auf den Grabstein des Priesters Badegisel. Ein heller Kalkstein mit sauber ausgeführter Inschrift. Mit nur 40 auf 40 Zentimetern ist der Stein vergleichsweise klein. Durch die Schrift lässt sich der Stein auf die Jahre um 700 datieren. Eine Besonderheit sind die Andeutung von Runen auf dem unteren Teil des Steins sowie die runenartige Ausarbeitung einzelner Buchstaben. „Dies zeugt“, so Kirsten Wallenwein, „von einer gemeinsamen Schriftkultur – der germanisierte Eindruck ist typisch für die Zeit“. Auch weitere frühe Grabsteine – meist verbaut in Mauerwerk späterer Zeiten – zeugen von einer ganz eigenen Mainzer Schriftlichkeit im 8. Jahrhundert, die auch die Alltagskultur durchzogen haben muss.
Im ersten der beiden Ausstellungsräume sieht man neben den Grabsteinen einen golddurchwirkten Umhang, ein Schweißtuch Christi in einem edelsteinbesetzten Schaukästchen sowie einen in roten Samt eingewickelten Schädel. Doch diese farbigen großen Stücke sind nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit Kirsten Wallenweins. Sie steuert zielstrebig auf eine zunächst unscheinbare Ecke zu. Auf Augenhöhe befinden sich hinter Glas drei kleine und ein etwa handtellergroßes Stück Pergament. Sie sind kaum lesbar. Wallenwein bleibt lange vor der kleinen Vitrine stehen – sie hat viel zu erzählen zu diesen ungerade geschnittenen gelblich-bräunlichen Pergamentstückchen.
Es handelt sich um drei Authentiken, die vormals Reliquien zur Identifizierung beigegeben waren und um eine Inventarauthentik, die den Bestand der vor Ort befindlichen Reliquien auflistet. Authentiken sind von der Forschung bislang fast nicht beachtet worden – auch wegen ihres meist ungeregelten Lateins. Das Heidelberger SFB-Teilprojekt um die Mittellateiner Tino Licht und Kirsten Wallenwein hat sich der eingehenden Untersuchung der kleinen Pergamentstückchen gewidmet und den Anstoß zu der Ausstellung gegeben. Die kleinen Schnipselchen sind in der Tat sehr beredt, wenn man sie denn lesen kann. Sie zeugen von regem Austausch zwischen geistigen Zentren Westeuropas im Frühmittelalter – feststellbar für Paläographen des Mittellateinischen durch regionale Eigenheiten der Schrift. Die drei ausgestellten Reliquienauthentiken stammen aus Frankreich.
Reliquien waren für die geistigen Zentren von großer Bedeutung; sie werteten den Ort durch die Präsenz eines oder mehrerer Heiligen auf und banden ihn in die geistige Gemeinschaft ein. Daher war es sehr wichtig zu wissen, welche Reliquien sich vor Ort befanden. Die ausgestellte Inventarauthentik diente der Übersicht. „Es handelt sich um das älteste uns erhaltene Mainzer Schriftstück, das handschriftlich ausgeführt wurde“, erläutert Wallenwein. „Es stammt aus der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts. Leider ist es nicht vollständig.“ In der Tat, unten wurde das Pergament abgetrennt. Trotz seiner Unvollständigkeit können die Mittellateiner aus der kleinen Liste vieles über die Sprachwirklichkeit des Frühmittelalters erfahren.
Der größere zweite Raum der Ausstellung befindet sich in einem ehemaligen Stück des Kreuzgangs. Hoch wölbt sich die Decke über dem schmalen Raum. Links, mittig und rechts sind Vitrinen aufgestellt. Während rechts die Codices aufgeschlagen sind, die der Ausstellung den Titel gaben – reich bebilderte, mit Gold und Silber beschriebene liturgische Handschriften – sind links sichtlich mitgenommene, dicht beschriebene Einzelblätter und mehrfach bearbeitete Codices zu sehen. „Viele Mainzer Stücke liegen nicht mehr in Mainz. Einige Blätter und Codices wurden aus Trier und Zeitz entliehen. Einige andere sind Reproduktionen verlorener Handschriften“, so Wallenwein. Sie geht dicht an eine der Vitrinen mit einem stark bearbeiteten Einzelblatt heran. Man könne aber gut sehen, wie sich auch im karolingischen Mainz eine insular (von Irland, Schottland und England her) beeinflusste Schriftlichkeit ausgebildet habe.
Die Lokalisierung handschriftlicher Zeugnisse wird ab dem 9. Jahrhundert schwieriger. Die karolingische Minuskel setzte sich gegenüber regionalen Schriftarten durch. Lokale Eigenheiten sind an der stark formalisierten Schrift viel schlechter ablesbar. Doch in Mainz zeigen sich die Längen der Buchstabenschäfte in Skalpellform – eine Besonderheit des Stils, die die Mainzer Herkunft der ausgestellten Blätter belegt.
Die einzelnen Blätter teilen das Schicksal vieler mittelalterlicher Codices – da das Material Pergament teuer war, wurden Bücher aufgebunden und als Einbände neuer Bücher verwendet. So finden sich auf einem Doppelblatt eines frühmittelalterlichen Codex mit Auszügen aus Werken des Augustinus, neben Falzen und Rissen, Signaturen und Titelangaben eines späteren Bandes, der in das Blatt zum Schutz eingeschlagen war. Ein anderer Band zeigt unter einer sorgfältig ausgeführten Minuskel den Rest einer nicht minder sorgfältigen Schrift, die abgeschabt wurde – ein Palimpsest.
Um ein Schriftstück in seinen kulturellen Kontext einordnen zu können, sind physische Untersuchungen am Material möglich, doch wichtiger noch sind sprachgeschichtliche und paläographische Kenntnisse. Mittellateiner wie Tino Licht und Kirsten Wallenwein bringen die Pergamentblätter in all ihren historischen Schichten zum Sprechen. Je mehr Geschichte auf einem Blatt eingetragen wurde, desto mehr gibt es zwischen den Zeilen zu lesen.
Die Ausstellung war vom 24. März bis zum 18. Juni 2017 zu sehen. In dem vom Museumsleiter Winfried Wilhelmy und Tino Licht herausgegebenen Katalog ist sie noch nachzuvollziehen. Die vielen Kenntnisse über die eher unscheinbaren Pergamentstücke und -blätter, mit denen Kirsten Wallenwein durch die Ausstellung geleitet hat, finden sich in dem Themenheft „Artefakte früher Mainzer Schriftkultur“, das Tino Licht, Kirsten Wallenwein und die Freiburger Mittellateinerin Eva Ferro besorgt haben.
Epigraphik griechischer Heiligtümer | [Bericht lesen] |
Am 9. und 10. Mai 2017 fand an der Universität Münster ein Workshop statt, bei dem es um Inschriften in Heiligtümern der griechischen Antike ging. |
Heiligtümer waren im antiken Griechenland ein beliebter Ort für die Anbringung von Inschriften. Texte unterschiedlichster Gattungen finden sich – offizielle Verlautbarungen, Staatsverträge, Ehr- und Weihinschriften. Besucher müssen damals von der schieren Menge und Allgegenwart der Texte geradezu erschlagen gewesen sein.
Der Workshop „Understanding the Epigraphy of Greek Sanctuaries“ hatte das Ziel, die massive Präsenz von Inschriften in den Heiligtümern besser zu verstehen. Sie sollen nicht als reine Texte untersucht werden, sondern mit Bezug auf ihre Anbringung, ihre materiale Beschaffenheit, ihre wahrscheinliche Rezeption und mögliche Einbindung in (rituelle) Praktiken. Wir wollen klären, so die beiden Veranstalterinnen, Evelien Roels vom SFB 933 und Marie Drauschke vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“, ob es einen Zusammenhang zwischen den Typen von Inschriften und den Typen der Heiligtümer gibt, in denen sie angebracht sind.
Der Workshop brachte Doktoranden, die sich in ihrem Dissertationsprojekt mit der Epigraphik heiliger Stätten im alten Griechenland mit erfahrenen Wissenschaftlern zusammen zu bringen. Gemeinsam untersuchten sie die besondere Präsenz von Inschriften in Heiligtümern zu untersuchen. Vorträge und Diskussion behandelten Fragen nach den Hintergründen und der Wirkung bestimmter Inschriften im religiösen Raum.
Die Vorträge beleuchteten sehr unterschiedliche Aspekte der Epigraphik griechischer Heiligtümer: während manche sich auf eine spezifische Inschriftengattung konzentrierten (z.B. zwischenstaatliche Verträge und Freilassungsurkunden), fokussierten andere Beiträge die verschiedenen Inschriftenträger bzw. die wechselnden Aufstellungskontexte. Professor Funke hob in seiner Schlussbetrachtung die Bedeutung von Zeitlichkeit und Räumlichkeit bei der Interpretation epigraphischer Zeugnisse hervor.
Marmor. Eine Ortsbegehung | [Bericht lesen] |
Denkt man an antike Inschriften, so denkt man an Marmor. Was macht Marmor als Beschreibstoff so besonders? Benjamin Allgaier, Doktorand der Klassischen Philologie (Gräzistik) am SFB 933, fuhr Anfang April 2017 mit Archäologen, Althistorikern und Mittelalter-Kunsthistorikern nach Istanbul und auf die Insel Marmara im gleichnamigen Meer. Im Interview berichtet er über den Praxis-Workshop, der vor antiken Monumenten aus Marmor und im Steinbruch stattfand. |
Nele Schneidereit: Lieber Benny, wie sah das Konzept Eurer Reise aus und welche Stationen hatte sie?
Benjamin Allgaier: Wir waren zuerst in Istanbul, dann zwei Tage auf der Marmara-Insel und in Kyzikos. Auf der Insel wird seit sehr langer Zeit und auch heute noch Marmor abgebaut. Das war ein ziemliches Kontrastprogramm – die Großstadt mit ihren vielen Monumenten und dann diese kleine Insel, auf der auch nur wenige Menschen waren. Im Hotel waren wir die einzigen Gäste. Danach sind wir dann nochmal mit frischem Blick nach Istanbul gefahren und haben uns einige Kirchen angesehen.
Was wolltet ihr herausfinden?
Am SFB gibt es ja seit vorigem Jahr die Arbeitsgruppe „Schrift im Raum“. Eine zentrale Frage dieser AG ist, wie die Menschen früher mit beschrifteten Artefakten interagierten. Wie haben die Artefakte ihr Handeln beeinflusst? Das ist eine ebenso spannende wie schwierige Frage, der man sich am besten vor Ort stellt, denn der Raum schränkt die Menge möglicher Handlungen in ihm ja schon ein.
Ein paar Dinge kann man also feststellen?
Ja, schon. Man kann – trotz des stark veränderten Stadtbildes – teilweise noch sehen, ob ein Gebäude oder ein Monument räumlich besonders hervorgehobe
n war. Das ist zum Beispiel im Hippodrom, der antiken Pferderennbahn, der Fall. Dort stehen ganz zentral ein altägyptischer Obelisk und die Schlangensäule, die Konstantin wohl im 4. Jahrhundert aus Delphi bringen und aufstellen ließ. Man kann politische Gründe für diese Aufstellung vermuten – die Säule als eine Art Weckruf an das eigene Volk. Konstantin stand im Machtkampf mit dem sogenannten Neupersischen Reich, und vielleicht wollte er mit der Aufstellung der Säule sagen: Kämpft tapfer, wie damals die alten Griechen. Dass die Säule eine politische Funktion erfüllte, kann man sich schon gut vorstellen, wenn man sich das mal vor Ort ansieht.
Die Verwendungskontexte und Entstehungszeiträume der besuchten Artefakte sind sehr unterschiedlich, konntet Ihr Gemeinsamkeiten feststellen, die durch das Material Marmor bedingt waren?
Eventuell kann man sagen, dass der Wille erkennbar ist, etwas Besonderes zu produzieren. Marmorbauten sind ja meist sehr aufwändig und prachtvoll. Die Wertigkeit des Materials spielte offenbar eine große Rolle. Wenn man auf der Marmara-Insel ist, sieht das natürlich ganz anders aus. Da liegt überall Marmor herum. Ein kurioses Zeichen dafür, dass dieses normalerweise seltene Material auf der Insel einen anderen Stellenwert hat, war ein Tisch, der vor einer Hütte auf dem Gelände eines stillgelegten Marmor-Sägewerks stand: Auf zwei Marmorstützen hatte man eine sehr schäbige Platte gelegt. Ein Marmor-Campingtisch.
Du bist gemeinsam mit Archäologen, Althistorikern, und Kunsthistorikern gereist. Wie ist Dein Eindruck von der interdisziplinären Zusammenarbeit?
Die Stadt selbst legt diesen Zugang sehr nahe. Wir sind zum Beispiel in der Hagia Sofia gewesen und haben dort den Einzug des Kaisers – mit Herrn Westphalen (Professor für Byzantinische Archäologie und Kunstgeschichte) als Kaiser – nachgestellt. Wir wissen aus einem Zeremonienbuch des 10. Jahrhunderts, wie so ein Einzug abgelaufen ist. Damit wir uns der politischen Raumsituation so nähern können, brauchen wir bauhistorische Kenntnis, aber wir brauchen eben auch jemanden, der das Zeremonienbuch kennt. Das sind dann eher textorientierte Wissenschaftler. Durch das Wissen beider Disziplinen kann man den Ort und die Weise, wie er genutzt wurde, besser verstehen.
Die Hagia Sofia bietet sich wegen ihrer langen und wechselvollen Geschichte sicher besonders für die interdisziplinäre Forschung an?
Unbedingt. Aus dem 6. Jahrhundert haben wir das Gedicht Ekphrasis (gr. Beschreibung) über die Hagia Sofia. Es wurde aus Anlass der Wiedererrichtung der Kirche nach ihrer zweiten Zerstörung geschrieben. Das Gedicht beschreibt unter anderem die verwendeten Materialien ausführlich. Für Kunsthistoriker ist so etwas sehr wichtig. Aber auch für Philologen ist der Text interessant. Er ist nämlich größtenteils in Hexametern geschrieben, was zu der Zeit eher unüblich war. Offenbar lehnt sich das Gedicht an die griechische Literatur seit Homer an. Diese Aspekte aufeinander zu beziehen, ist nur in einer interdisziplinären Gruppe möglich.
Welches Artefakt, welcher Ort hat Dich auf der Reise am meisten beeindruckt?
Das war vielleicht die Chora-Kirche, die wir am Ende der Reise besucht haben. An der Decke der Kirche sind Mosaike mit Bibelszenen und griechischen Inschriften zu sehen. Obwohl die Schrift gut zu lesen war, zählten wohl erstmal die Bilder, der Text war eher Beiwerk. Das ist ein guter Anstoß, über die eigene Rezeptionspraxis nachzudenken. Die Zeitgenossen des 14. Jahrhunderts haben die dargestellten Szenen vermutlich einfach gekannt. Die Schrift könnte lediglich als Anzeige der ‚heiligen Schrift‘ gedient haben. Als Philologe konzentriere ich mich natürlich zunächst auf den Text.
Du arbeitest am Verhältnis von Memorialinschriften und der Erwähnung dieser Inschriften in Herodots Historien. Gibt es einen unmittelbaren Ertrag dieser Reise für Deine Arbeit?
Da war die Schlangensäule am wichtigsten für mich. Sie wird ja wie einige andere Inschriften bei Herodot in den Historien (5. Jh. v. Chr.) erwähnt. In der Forschung ist dann eine große Frage, wie man mit Herodots Aussagen umgehen soll. Die Schlangensäule ist dann oft so ein Beispiel dafür, dass Herodots Beschreibung unzuverlässig oder falsch sei. Er schreibt nämlich, dass die Säule eine Schlange mit drei Köpfen darstelle. Das Monument ist leider nicht mehr unversehrt; so sind beispielsweise die Köpfe schon vor langer Zeit abgefallen. Trotzdem wird in der Forschung manchmal mit der größten Selbstverständlichkeit behauptet, dass es sich um drei Schlangen mit je einem Kopf gehandelt haben muss. Wenn man aber vor der Säule im heutigen Istanbul steht, drängt sich dieser Eindruck gar nicht unbedingt auf. Man macht sich klar, dass es eine Vielzahl nachvollziehbarer Beschreibungen ein und derselben Sache geben kann. Für meine Arbeit ist das ein wichtiges Ergebnis.
Vielen Dank für das Gespräch!
Personen:
Benjamin Allgaier ist seit Sommer 2016 Doktorand im Teilprojekt C08 „Inschriften als Meta-Historie in der griechischen Geschichtsschreibung“ bei Professor Jonas Grethlein (Klassische Philologie-Gräzistik) am SFB 933. Kontakt: b.allgaier[at]stud.uni-heidelberg.de
Dr. Nele Schneidereit ist wissenschaftliche Koordinatorin des SFB 933.
Schriftgemeinschaften | [Bericht lesen] |
Die Arbeitsgruppe „Vergesellschaftete Schriften“ des SFB 933 richtete am 15. und 16. März 2017 am Internationalen Wissenschaftsforum Heidelberg eine Tagung aus. Es ging um die Frage, was es für einen Text heißt, wenn er zusammen mit anderen Texten – anderer Inhalte, Sprachen oder Schriften – auf ein und dasselbe Artefakt geschrieben wurde und was diese Praxis für den Umgang mit dem Artefakt selbst bedeutet. |
Texte neben Texten sind metaphorisch gesprochen vergesellschaftete Schriften. Was bedeutet Vergesellschaftung hier? In der Soziologie bezeichnet der Begriff die Einbindung des Individuums in ein übergeordnetes Ganzes durch seine Handlungsfähigkeit. Die Altertumswissenschaftlerin Ulrike Ehmig und der Assyriologe Adrian Heinrich wiesen in ihrem Einleitungsstatement darauf hin, dass der Begriff auch in anderen Disziplinen wie der Pflanzensoziologie oder der Mineralogie vorkommt. Während der Tagung zeigte sich jedoch, dass der Aspekt aktiver Handlungsfähigkeit aus der klassischen Soziologie am treffendsten für die Arten der Vergesellschaftungen ist, um die es den Vortragenden auf dem Workshop ging.
Ein weiteres Wort zur Begriffsklärung ist vonnöten; „Vergesellschaftung“ ist in der Archäologie ein eingeführter Terminus. Er bezieht sich auf das von Oscar Montelius zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingeführte Konzept des „geschlossenen Fundes“. Damit wird das Gesamt der Objekte bezeichnet, die in der Vergangenheit zusammen deponiert und bis zu ihrer Auffindung nicht gestört wurden.
Anders als bei Montelius‘ geschlossenem Fund verfolgt die Idee der Vergesellschaftung von Schriften nicht die Lösung von Datierungsfragen, sondern untersucht die Ensembles von Artefakt(en) und Texten sowie die Praktiken, denen sie unterworfen waren. Nicht selten zeichnen sich bestimmte Muster ab, die vom Ort, der Beschaffenheit des Artefakts und dem bereits zuvor dort Geschriebenen bestimmt werden – man könnte von einer Gesellschaft der Schreiber sprechen, die die Vergesellschaftung des Geschriebenen bedingt.
Touristen und Pilger halten sich an die Regeln der bereits bestehenden Texte, wenn sie einen eigenen hinzufügen. Das lässt sich zum Beispiel bei den Inschriften von Soldaten am Thot-Tempel von Pselkis in Ägypten beobachten. Sie ähneln einander formal, man setzt seinen Namen und Text bewusst in den Raum, angepasst an frühere Notizen und einen möglichst guten Zugang zum – transzendenten – Rezipienten. Gleiches findet sich an den Memnon-Kolossen in Theben bis hin zu vollgeschriebenen Wänden in zeitgenössischen Wallfahrtsstätten. Die Schreiber setzen sich mit ihrem Text von den Texten anderer ab. Gleichzeitig aber interagieren sie mit ihnen.
Die räumliche Nähe der Texte nämlich ist keineswegs Zufall, sondern intendiert. Über diese Intention nachzudenken, eröffnet neue Perspektiven für die Handlungen, die am Ort und mit den Artefakten stattfanden und die Bedeutung des Geschriebenen. Die Schreiber fügen sich zu einer Gruppe zusammen, die zwar kaum je zeitgleich agierte, immer aber auf die Nachrichten der anderen an die Nachwelt oder an göttliche Mächte Bezug nahm und reagierte.
Die Dynamik vergesellschafteter Schriften bewegt sich zwischen formaler Angleichung und individueller Abgrenzung einerseits und zwischen der Einfügung in eine Gruppe menschlicher Schreiber und der Anrede künftiger (auch nicht-menschlicher) Akteure andererseits. Die materiale Sichtung dieser Dynamiken und ihrer kulturellen Kontexte lässt Schlüsse auf die Bedeutung von Schrift und Geschriebenem als Phänomen über Zeiten und Räume hinweg zu. Die Tagung zeigt die Produktivität dieser Sichtung für eine Vielzahl kulturhistorischer Disziplinen zwischen dem Alten Orient und der Frühen Neuzeit auf. Eine Publikation ist geplant.
Bericht: Dr. Nele Schneidereit
Ansprechpartnerin: PD Dr. Ulrike Ehmig (ulrike.ehmig@uni-heidelberg.de)
Der spätmittelalterliche Codex | [Bericht lesen] |
Wie fruchtbar ist der material turn für Mittelalterhistoriker? Zwei Heidelberger Mediävisten veranstalteten am 16. und 17. Februar 2017 einen Workshop zum Thema „Materialität als Herausforderung: Der spätmittelalterliche Codex im Fokus der Historischen Grundwissenschaften“. |
Beim Sortieren der Kopien schneidet das Papier in den Finger. Das P der alten Tastatur klemmt. Die Kugelschreibermine ist beim Notieren der Telefonnummer auf dem Anrufbeantworter endgültig leer. Beim Schreiben und Lesen kann die Materialität der Dinge eine echte Zumutung sein.
Das ist nicht nur heute so. Wie man im Mittelalter mit den Herausforderungen des Materials umging und wie das Material der beschrifteten Dinge den Umgang mit ihnen prägte, wurde auf einem Workshop des SFB 933 diskutiert. Veranstaltet wurde er von den Mittelalterhistorikern Charlotte Kempf (TP A06) und Stefan Holz (TP B10).
Die theoretisch-methodische Hinwendung zu den Dingen und ihrem Material, der material turn beeinflusst die historischen Wissenschaften seit Längerem. Auch die Mediävistik arbeitet mit Methoden, die die Materialität der Objekte in den Vordergrund stellen. Die Wahl des Materials und seine Bearbeitung verraten viel über ein Artefakt. Zugleich lassen sich Gebrauch und Rezeption von beschriebenen Artefakten oft durch die Untersuchung seiner räumlichen Präsenz und seiner Gebrauchsspuren erschließen.
Auf dem Workshop im Februar wurden in vier methodisch-thematischen Sektionen materialitätsgeschichtliche Aspekte von mittelalterlichen Codices diskutiert – also der Buchform, die in der Spätantike entstand und die bis heute vorherrschend ist. Der Codex steht damit im Gegensatz zur damals ebenfalls verbreiteten Rollenform, war aber bequemer zu handhaben. In den unterschiedlichen Schreibstuben wurden Codices meist aus Pergament, im Laufe des Spätmittelalters vermehrt aus Papier hergestellt.
Das beschriebene Artefakt ist ein Unikat. Wie einem menschlichen Individuum hat es eine eigene Geschichte, die als ‚Objektbiographie‘ geschrieben werden kann. Man beobachtet darin die Geschichte und die wandelnden Identitäten eines Objekts durch die Zeit. Doch was für Handschriften gilt, kann ebenso auf Drucke zutreffen. Falk Eisermann von der Staatsbibliothek Berlin zeigte in seinem öffentlichen Abendvortrag, dass auch frühe Drucke (Inkunabeln) oft handschriftlich vervollständigt wurden. In diesen Fällen kann man daher, über die Individualisierung hinausgehend, von einer Konvergenz der Medien Handschrift und Druck sprechen; es gab Drucke, die auf Handschriften, und Handschriften, die auf Drucken beruhten.
Ein zentrales Ergebnis der Tagung war, dass die Anordnung von Schrift (und Bild) innerhalb des mittelalterlichen Codex’ sich nicht nach dem Prinzip „form follows function“ richtete. Die Anordnung lässt sich eher aus dem Umgang mit dem Buch erklären. Zudem waren Tradition und das Bestreben nach langer Haltbarkeit wichtig bei der Wahl des Materials und seiner Gestaltung. Oft geben die Gestaltung eines Objekts oder Gebrauchsspuren Hinweise auf die Praktiken, in die es eingebunden war. Aus der Rekonstruktion der Praktiken lässt sich wiederum die kulturelle Bedeutung erschließen, die einem Artefakt zukam. Ob es zum Beispiel Teil der religiösen Praxis war oder ob es in der Verwaltung benutzt wurde.
Der durch den material turn beeinflusste methodische Zugriff, der das einzelne Artefakt in seiner historisch-praktischen Umgebung lokalisiert, erwies sich – bei allen auch angemahnten Grenzen – als produktiv.
(Nele Schneidereit - unter Mitarbeit von Dorothea Bach, Paul Blickle und Robert Janson, die einen ausführlichen Bericht verfasst haben, der auf H-Soz-Kult erschienen ist: http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7104)
Standardisierungsstrategien: Digitale Textverarbeitung mit TEI in der Altgermanistik | [Bericht lesen] |
TEI ist seit vielen Jahren das Standardformat für digitale Editionen in den Geisteswissenschaften. Dieses Verdienst kommt dem Format wegen seiner großen und flexiblen Ausdrucksmöglichkeiten zu. Wie so oft, hat auch diese Medaille zwei Seiten: Aufgrund der Flexibilität des Formats ist es schwer, Standardisierungen für das Kodieren mit TEI einzuführen. Dieses Problem wurde auf einem Workshop diskutiert, den der SFB 933 und die Universitätsbibliothek (UB) Heidelberg gemeinsam ausrichteten. |
Vom 16. bis 17. März traf sich eine große Expertenrunde aus dem Bereich der Digital Humanities, um über die Textverarbeitung im TEI-Format zu diskutieren. Anwesend waren Mitarbeiter des Parzival-Projekts, des Projekts zur Deutschen Lyrik des Mittelalters, des Global Medieval Sourcebook (noch nicht veröffentlichtes Projekt der Stanford University), des Heidelberger Projekts Welscher Gast digital sowie Karin Zimmermann und Leonhard Maylein von der UB Heidelberg.
Die vertretenen digitalen Editionsprojekte sind darauf ausgerichtet, vorwiegend mittelhochdeutsche Texte zu Studien- und Forschungszwecken frei zugänglich zu machen. Dafür ist Lesefreundlichkeit des edierten Textes ebenso wichtig wie die Überlieferungsnähe. Die digitale Edition soll neben einem kritisch edierten Text samt Kommentar und Variantenapparat auch eine buchstabengenaue Transkription sowie die digitalisierte Handschrift zum Abgleich erhalten.
Sonja Glauch sprach am Beispiel des Lyrik-Projekts von einem Schichtenmodell, an dessen unterster Ebene das Digitalisat steht. Dann folgen die buchstabengenaue Transkription und die Auflösung von Abbreviaturen. Erst dann der Editionstext sowie die Normalisierung zum Standard-Mittelhochdeutschen Lesetext. Für all diese Ebenen muss es Kodierungsverfahren geben, die sie ausdrücken. Das genutzte Datenformat definiert, welche Merkmale des Textes überhaupt kodiert und damit als wesentlich für den Text in die Darstellung aufgenommen werden. Der datentechnische Ausdruck muss daher in der gewünschten Detailgenauigkeit möglich sein - Reimschemata, Lemmata, Korrekturen, aber auch Layoutmerkmale wie Umbrüche, Korrekturen oder Glossierungen.
Das Dokumentenformat TEI - seit Ende der 1980er Jahre von der Text Encoding Initiative entwickelt und gepflegt - bietet diese Ausdrucksmöglichkeiten. Es ist daher das Standardformat für digitale Textverarbeitung in den Literaturwissenschaften. Technisch gesehen beruht TEI auf dem sehr weit verbreiteten Datenformat XML (Extensible Markup Language). Nachnutzbarkeit und Maschinenlesbarkeit sind daher grundsätzlich gesichert.1
Allerdings - und dies war der Anlass des Treffens - gibt es zu viele Möglichkeiten, ein und dasselbe Phänomen mit TEI zu kodieren. Wegen dieser Ausdrucksvielfalt bezeichneten einige Teilnehmer TEI zu Beginn des Workshops als "XML für Hippies". Insbesondere wurde diskutiert, wie Korrekturen, Abbreviaturen und Initialen kodiert werden sollen. Die Projektvertreter wussten durchgängig von unterschiedlichen Code-Lösungen zu berichten.
Durch diese Vielfalt in Projekten, die mit ähnlichen Textcorpora arbeiten, sind die Editionen nicht untereinander kompatibel. Auch die künftig geplante Publikation aller TEI-Editionsdaten würde nach derzeitigem Stand gar nicht viel Nutzen bringen. Für die Verbindung der Editionsprojekte untereinander sowie die Nachnutzbarkeit und Erweiterbarkeit der Projekte selbst wäre eine Standardisierung der TEI-Kodierung ein echter Fortschritt.
Am Grunde der Standardisierungsfragen liegt das Problem, wie einig man über das Phänomen ist, das kodiert werden soll. Eine Datenphilosophie müsste zum Beispiel definieren, welche vier Fälle von des Phänomens 'Korrektur' es gibt und wie diese vier standardmäßig kodiert werden. Das erkenntnistheoretische Interpretationsproblem des "Was ist das, was wir hier sehen?" löst sich damit zwar nicht. Es wird aber durch den Abgleich mit dem eingebetteten Digitalisat in Schach gehalten. Dafür würde eine Kodierungsstrategie einen einheitlichen Umgang mit der datentechnischen Verarbeitung des definierten Phänomens ermöglichen. Dies wäre eine unerlässliche Vereinheitlichung für Anschlusseditionen und spätere Forschungen, deren Fragen wir heute nicht einmal kennen.
Die Runde beschloss daher, eine Plattform einzurichten, auf der TEI-Kodierungsfragen diskutiert und einheitlich beantwortet werden können. Sie wird voraussichtlich an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) angesiedelt sein.
Weitere - und ausführlichere - Berichte über diesen Workshop wird es auf H-Soz-Kult sowie in dem Internet-Periodicum Perspicuitas geben.
Bericht: Dr. Nele Schneidereit
1 Vgl. zu diesen Überlegungen Schöch, Ein digitales Textformat für die Literaturwissenschaft: Die Richtlinien der Text Encoding Initiative und ihr Einsatz bei Textkonstitution und Textanalyse, in: Romanische Studien 4 (2016), S. 325-364, http://romanischestudien.de/index.php/rst/article/view/58).
Interview mit Eva Ferro (23.01.2017) | [Bericht lesen] |
Schrift und Knochen – Eva Ferro forscht am SFB 933 zu Heiligenkulten im Mittelalter |
Nele Schneidereit: Liebe Eva, Du bist seit Oktober Gastwissenschaftlerin am SFB 933. Wie kam es dazu?
Eva Ferro: Ich habe auf einer Fachkonferenz einen Vortrag gehalten. Danach haben Tino Licht und Kirsten Wallenwein mich angesprochen. Übrigens, die beiden haben mich dem ehemaligen Heidelberger Lehrstuhlinhaber für Mittellatein, Walter Berschin vorgestellt als „jemand, der zu Heiligenoffizien forscht“. Das sind mittelalterliche Stundengebets-Texte für Heiligenkulte. Herr Berschin fand das sehr lustig, weil er sich auch intensiv damit beschäftigt hat – es gibt aber nur wirklich wenige Menschen, die sich damit auskennen. Tino Licht hat mich dann für ein halbes Jahr als Mercator Fellow an den SFB eingeladen.
Woran forschst Du hier in Heidelberg?
Im Teilprojekt geht es ja um Reliquien und ihre Authentiken, also Körperteile oder Gegenstände von Heiligen und die kleinen Zettelchen, auf denen steht, zu welchem Heiligen sie gehören. Ich erforsche in meiner Zeit am SFB 933, was im Mittelalter über Reliquien und ihre Authentiken gedacht und geschrieben wurde.
Was sind das für Texte, in denen über Reliquien geschrieben wurde?
Ganz unterschiedliche. Oft wurde die Überführung von Reliquien von einem an einen anderen Ort dokumentiert. Seit dem 8. Jahrhundert wollten die Bischöfe den eigenen Ort durch eine Verbindung zu Rom und zu den christlichen Märtyrern aus dem 3. und 4. Jahrhundert ‚aufwerten‘. Man schreckte dabei nicht vor Leichenfledderei zurück: Gräber in Rom wurden geöffnet und Teile der Heiligen an andere Orte gebracht, zum Beispiel nach Franken. Diese Überführungen wurden in literarischen Texten oder auch Briefen beschrieben. Außerdem spielen Reliquien natürlich in Texten über Leben und Taten der Heiligen (Viten) sowie in der mittelalterlichen Liturgie eine wichtige Rolle.
Wie gehst Du bei der Suche nach Texten über Reliquien und Authentiken vor?
Zum einen durch intensive Lektüre der Primärquellen. Teilweise mache ich das gemeinsam mit den Studenten in meinen Seminaren. Die Texte sind manchmal wirklich unterhaltsam. Außerdem arbeite ich viel mit Datenbanken. Dort gehe ich über die direkte Suche nach dem lateinischen Wort für Reliquie, manchmal gebe ich auch ossa für Knochen oder Ähnliches ein. Mit den Authentiken ist es nicht so einfach. Da versuche ich über Wortfeldsuche dran zu kommen. Ich gebe Wörter wie pittacium, also Schriftstückchen, oder cartula, Zettelchen ein. Oft werden die Authentiken in den Texten nicht erwähnt, aber manchmal ist es auch klar, dass ossa und scripta – das Geschriebene, also die Authentik – zusammengehören.
Die Authentik ist also wesentlich für die Reliquie?
Es ist ja eher umgekehrt: Die Reliquie ist wesentlich für die Authentik. Aber die Authentik hat auf jeden Fall eine wichtige pragmatische Funktion: Durch sie kann ein Knochen einem bestimmten Heiligen zugeordnet werden. Man muss auf jeden Fall verstehen, dass Reliquien kein Symbol für Heiligkeit sind – jedenfalls nicht im heutigen Sinne. Durch die Reliquie ist vielmehr der Heilige mit seinem ganzen Körper anwesend, ja, sogar lebendig. Die Authentik mit den Namen des Heiligen verstärkt diese Präsenz ein Stück weit.
Reliquien waren ein wichtiger Bestandteil des mittelalterlichen Heiligenkults. Würdest Du sagen, dass die heutige Verehrung von Gegenständen, die mit berühmten Personen verbunden sind, ähnlich funktioniert?
(Lacht) Ja, der Starkult heute hat definitiv Ähnlichkeiten mit dem mittelalterlichen Reliquienkult. Man will die verehrte Person anfassen. Gegenstände, die zu ihr gehören, haben irgendwie eine Art Aura. Auch Phänomene wie die Mobilisierung ganzer Menschenmengen werden in den Texten beschrieben. Das ist ja auch heutzutage noch zu beobachten.
In deinem Dissertationsprojekt forschst du über einen Stadtheiligen des mittelalterlichen Verona. Worum geht es?
Der Heilige, über den ich forsche, hieß Zeno. Er wurde nicht nur in Verona, sondern auch in anderen italienischen Städten, wie Cividale, und auch im süddeutschen Raum verehrt, zum Beispiel in Bad Reichenhall. Ich konzentriere mich vor allem auf die liturgischen Texte, die an seinem Fest rezitiert, gelesen und gesungen wurden. Meine These ist, dass Heilige durch die Praktiken konstruiert werden, mit denen man sie verehrt. Der ‚gelebte‘ Kult macht also den Heiligen. Wenn ich etwas über die Heiligen wissen will, reicht es nicht, die Viten zu lesen. Ich versuche deshalb, alles über den Zeno-Kult und seine Praktiken herauszufinden. Mittelalterliche Bücher für die Liturgie, wie Stundenbücher oder kirchliche Kalender sind wichtige Quellen für mich.
Hast Du eine Lieblingsgeschichte über einen Heiligen?
(Überlegt.) Also, ‚mein‘ Zeno ist ja eher ein langweiliger Heiliger – nicht für mich natürlich. Meine Kollegen aus dem Teilprojekt können aber viele spannende Geschichten zu Reliquien erzählen.
Hast Du ein Beispiel?
Ja. Wie ein zeitgenössischer Text beschreibt, soll bei der Überführung von Reliquien der beiden Märtyrer Marcellinus und Petrus Folgendes passiert sein: Auf dem Weg von Rom nach Michelstadt begann die Holzbüchse zu bluten, in der die Knochen verwahrt waren. Einhard, der Autor des Textes, weist auf die Statuen hin, die genauso wie die Büchse ‚Blut schwitzen‘. Im Seminar mussten wir sofort an die weinenden Madonnen denken, von denen man heute noch manchmal hört. Die Büchse blutete tagelang. Dann trocknete der Blutstrom plötzlich aus und verschwand. Danach wurde allen klar, dass Marcellinus und Petrus nicht nach Michelstadt, sondern nach Seligenstadt transportiert werden wollten. Dort wurden sie dann hingebracht und begraben.
Du bist Mitarbeiterin an der Abteilung für Lateinische Philologie des Mittelalters. Was reizt Dich am Fach Mittellatein – eine ‚Orchidee‘, von deren Existenz viele nicht einmal wissen.
Ich habe ja erst Philosophie studiert. Besonders habe ich mich für mittelalterliche Philosophie interessiert. Die literarischen und historischen Aspekte der Texte spielen aber in der Philosophie keine Rolle. Das habe ich immer vermisst. Mittellatein gibt mir die Möglichkeit, auch diese Gesichtspunkte in meine Forschung einzubeziehen. Manche Themen kann man nur in diesem Fach bearbeiten. Übrigens ist die Paläographie – die Erforschung alter Schriften – ja auch ein Teilgebiet des Fachs Mittellatein. Leider gibt es das Fach nicht mehr so oft. Übrigens ist Heidelberg in dieser Hinsicht wirklich ein herausragender Ort; Mittellatein hat hier eine starke Tradition. Durch den SFB 933 ist das Fach hier außerdem interdisziplinär in die Erforschung der Vormoderne eingebunden. Diese Blickweitung ist wirklich etwas Besonderes.
Vielen Dank für das Gespräch!
Zu den Personen:
Eva Ferro studierte Philosophie in Verona und Freiburg. Ihren Masterabschluss in Mittelalter- und Renaissancestudien machte sie 2011 an der Universität Freiburg. Sie ist Mitarbeiterin am Seminar für Griechische und Lateinische Philologie, Abteilung für Lateinische Philologie des Mittelalters in Freiburg. Ihr Dissertationsprojekt trägt den Titel „Ein Fest für den Heiligen. Texte und Liturgien für Zeno in und außerhalb Italiens im Mittelalter“.
Kontakt: eva.ferro@altphil.uni-freiburg.de
Dr. Nele Schneidereit ist wissenschaftliche Koordinatorin am SFB 933.
Workshop zur Autorität von Materialität im Mittelalter | [Bericht lesen] |
Wie entsteht musikalisches Geschichtsbewusstsein? Warum und wie wird Tradition konstruiert und gepflegt? Welche Bedeutung kommt dabei der materialen Beschaffenheit der Quellen zu? |
Gemeinsam mit dem europäischen Projekt „Sound Memories“ veranstaltete das musikwissenschaftliche Teilprojekt B11 „Materiale Formierungen musiktheoretischer Konzepte“ am 1. und 2. Dezember einen Workshop, auf dem diskutiert wurde, welche Rolle die materiale Gestaltung für die Konstruktion und Ausübung von Autorität im ausgehenden Mittelalter und in der Frühen Neuzeit spielte.
Das Sound Memories-Projekt verbindet Forscherinnen und Forscher in Cambridge, Heidelberg, Prag, Utrecht und Warschau. Sie untersuchen die Entstehung musikalischen Geschichtsbewusstseins vor dem Hintergrund religiöser Reformbewegungen und universitärer Kontexte vom 13. bis zum 16. Jahrhundert in Europa. Im Bereich der Musikkultur wurden Geschichtlichkeit und Tradition in dieser Zeit zu autoritätsstiftenden Größen. Mit der musikalischen Überlieferung wollte man die Altehrwürdigkeit und Geschichtsträchtigkeit von Institutionen zeigen. Die materiale Beschaffenheit der Musikalien war dabei zentral für den gewollten Effekt der Traditionsbildung.
Die Tagung versammelte Historiker und Musikwissenschaftler. Die Vorträge zeigten, auf welch vielfältige Weisen man im Mittelalter Autorität durch Layout oder Materialwahl betonte. Auch Traditionen wurden bewusst durch die materiale Gestaltung von Textträgern fortgeführt. So wies die Heidelberger Historikerin Maree Shirota (SFB 933, TP B10) in ihrem Vortrag zur Darstellung von Herrschergenealogien auf langen, unhandlichen Rollen auf die kontinuitätsstiftende Wirkung des Rollenformats hin.
Die Heidelberger Musikwissenschaftlerin Christine Roth zeigte, dass die Reformatoren Melanchthon und Lossius durch die Gestaltung ihrer Kirchengesangsbücher eine Tradition mit Bibel und Urkirche konstruierten – unter Ablehnung der Römischen Kirche; Tradition wird in der Regel gegen eine andere Tradition gebildet. Die Gestaltung der Gesangbücher der Reformatoren weisen eine klar pädagogische Ausrichtung auf. Der Gesang soll nicht nur in der Messe auf neue Weise ausgeübt werden, sondern die Anweisungen zielten darauf ab, eine breitere Wirkung zu erzielen. Roth identifizierte eine bewusst autoritätsstiftende Strategie.
David Eben (Charles University, Prag) zeigte, dass man den Einfluss politischer Entwicklungen auf Notationsweisen feststellen kann; im 14. Jahrhundert war die Notation in den liturgischen Gesangsbüchern ein Ausdruck der Zugehörigkeit zur Prager Diözese. Im 15. Jahrhundert findet sich diese Notation noch Messebüchern, obwohl sie eigentlich nicht mehr gebräuchlich war – Eben vermutet einen bewussten Anschluss an die vorhergehende Tradition.
Zu Beginn der Tagung stellte der Mittelalterhistoriker Nikolas Jaspert (SFB 933, TP A01) allgemeine Überlegungen zur Verbindung von Material und Gedächtnis an; bewusste Traditionsbildung prägt Gedächtnismedien, die gezielt als solche gefertigt werden. In der Regel ist jedoch gar nicht planbar, welche gedächtnistragende Wirkung ein Artefakt dann tatsächlich entwickelt. Die material gestützte, autoritative oder identitätsstiftende Wirkung von Musikalien oder Texten mag daher intendiert gewesen sein – ihre tatsächliche Wirkung zu ermitteln, ist jedoch nicht einfach.
Der Workshop zeigte auf, wie schwierig Fragen nach bewusster Stiftung von Autorität und Tradition im Mittelalter zu beantworten sind. Er zeigte aber auch, wie produktiv die Verbindung von historischen Analysen zu Traditionsbildung und Autoritätsstiftung mit der materialen Analyse der Textträger ist, mittels derer die besondere Auszeichnung einer Person oder einer Institution ins Werk gesetzt wurde.
Bericht: Nele Schneidereit
Workshop zu Fiktionalität und Faktualität von Metatexten | [Bericht lesen] |
Mitte November veranstaltete die Arbeitsgruppe „Schrifttragende Artefakte und Metatexte“ einen Workshop, in dem das Verhältnis von Metatexten zu Fiktionalität und Faktualität beleuchtet wurde. |
„Geschriebenes über Geschriebenes“, so definierte Markus Hilgert – von 2011 bis 2013 Sprecher des SFB 933 – den Begriff Metatext. Viele Teilprojekte des SFB 933 berufen sich bei ihrer Analyse von schrifttragenden Dingen auf solche Metatexte. Dabei spielen beispielsweise Anweisungen eine Rolle, wie mit einem Text umzugehen ist; aber auch die Erwähnung von Inschriften in Erzähltexten stößt in diesen Projekten auf Interesse. Bei der Analyse von Metatexten geht es darum, herauszufinden, wie das Geschriebene in einem Kulturraum dargestellt und reflektiert wird; was dachten die Menschen über Schrift und Geschriebenes? Wie stellten sie sich den Umgang damit vor? Und was können wir aus diesen Vorstellungen über den Umgang mit Geschriebenem lernen?
Bei dem Workshop, den die Arbeitsgruppe „Metatexte“ veranstaltet hat, wurde diskutiert, inwiefern sich anhand von Metatexten etwas darüber sagen lässt, ob das erwähnte schrifttragende Artefakt wirklich existiert hat oder fiktiv ist. Geben sich manche Autoren besondere Mühe, das Erzählte als ‚wahr‘ erscheinen zu lassen? Und gibt es historische oder kulturelle Unterschiede in der Art der Darstellung von Geschriebenem? Eingeladen für Vorträge und Diskussion waren Mitglieder des SFB 933, aber auch Mitglieder des Graduiertenkollegs „Faktuales und fiktionales Erzählen“ in Freiburg (Verena Linder-Spohn, Thorsten Glückhardt) und des Projekts „Narratologie interdisziplinär“ (Davina Brückner) in Mainz sowie Gäste aus Bochum (Walter Bührer) und München (Christina Abenstein). Die Veranstaltung brachte Historiker, Theologen und Philologen zusammen.
Es zeigte sich schnell, dass der heute für Literatur so gängige Begriff Fiktion für Forschungen zur Vormoderne nicht so einfach anwendbar ist. So stellte die Alttestament-Forscherin Friederike Schücking-Jungblut einen Abschnitt aus einer Qumran-Rolle vor, der durch besonderes Layout hervorgehoben ist und in dem die Texte aufgelistet werden, die König David verfasst haben soll. Die Menge der Texte ist dabei jedoch so groß, dass die Information vermutlich nicht mit der Realität übereinstimmte, also ‚fiktiv‘ ist. Schücking-Jungblut argumentierte jedoch, dass der Autor gerade nicht beabsichtigte, einen in heutigem Sinne ‚fiktionalen‘ Text zu schreiben.
Fragen von Genre und Textabsicht blieben während der gesamten Veranstaltung zentral; Christina Abenstein legte am Beispiel eines Autors der Spätantike dar, dass man mitbedenken muss, für welche Anlässe seine Texte geschrieben waren. Nur so kann eine Satire (ohne Faktizitätsanspruch) von einem theoretischen Text unterschieden werden.
Die Fiktionalisierung als Methode der Selbststilisierung beschrieb die Romanistin Stephanie Lang in ihrem Vortrag zu den Chroniken der katalanischen Herrscher Jaume I und Pere III aus dem 13. und 14. Jahrhundert. Statt sich um Belege der Faktizität zu bemühen, fügen sich diese Chroniken in ein Erzähluniversum aus vergangenen Texten ein. Ein Abgleich mit der ‚Realität‘ ist daher kein angemessener Umgang mit diesen Texten. Ähnliches berichtete Davina Brückner aus ihren Forschungen zum Scrotichronicon, einem (pseudo-)biographischen Werk über den schottischen König Bruce aus dem 14. Jahrhundert. Beide Wissenschaftlerinnen betonten, dass für die Textanalyse eher die Erzählstrategie als die Frage nach der Faktizität entscheidend ist. Texte sollten nicht als Indizien der historischen Wirklichkeit gelesen werden.
Die Frage, ob es angemessen ist, nach der historischen Echtheit von Texten zu fragen, wurde im Rahmen einer Podiumsdiskussion erörtert. Dabei zeigte sich die Spannbreite der disziplinären Fragestellungen und Traditionen, gerade im Spannungsfeld von Literaturwissenschaften und Geschichtswissenschaften. Der Historiker Ludwig Meier hob hervor, dass die Ermittlung der historischen Echtheit von Textangaben für sein Fach geradezu unumgänglich sei. Die anwesenden Philologen fragten hingegen eher nach Genre und Vermittlungsabsicht der Texte. Für das Problem der Echtheit der in einem Text erwähnten Texte bedeutet dieses Ergebnis, dass Fragen der Faktizität hinter Fragen der Inszenierung und Stilisierung zurücktreten sollten. Dieser Umgang mit Metatexten schließt den Text eher für die Analyse der mit ihm verbundenen Praktiken und Weltwahrnehmungen auf.
Bericht: Nele Schneidereit
Wikipedia-Schreibwerkstatt im Antikenmuseum der Universität Heidelberg | [Bericht lesen] |
Jeder kennt die Wikipedia-Enzyklopädie. Jeder nutzt sie. Kaum jemand weiß, wie die Einträge entstehen und welcher Qualitätskontrolle sie unterliegen. Das Teilprojekt „Öffentlichkeitsarbeit“ arbeitet am Brückenschlag zwischen Wissenschaft und dem größten enzyklopädischen Projekt, das es je gegeben hat. |
Auf Initiative des Teilprojekts Öffentlichkeitsarbeit des SFB 933 war Anfang Oktober 2016 die Redaktion Altertum der deutschsprachigen Wikipedia und weitere ehrenamtliche Wikipedianerinnen und Wikipedianer zu Gast in der Antikensammlung der Universität Heidelberg. Im Zentrum des Workshops stand eine Schreibwerkstatt, in der Angehörige des Zentrums für Altertumswissenschaften (ZAW), Studierende und Wikipedianer gemeinsam Artikel zu einzelnen Objekten, zur Sammlung selbst und zu ihrer Geschichte verfassten. Es sind zahlreiche wissenschaftlich betreute Einträge in der online-Enzyklopädie entstanden, die mit einer Vielzahl gemeinfreier Bilder verknüpft sind. Erstmals sind nun Objekte der Antikensammlung der Universität Heidelberg auf der ganzen Welt und für alle Interessenten virtuell zugänglich.
Um dieses Ziel zu erreichen, öffneten mehrere Mitglieder des ZAW die Türen ihrer Institution weit: Nikolaus Dietrich, Juniorprofessor für Klassische Archäologie, stellte den Autoren einen umfangreichen Handapparat mit einschlägiger Literatur zur Verfügung und führte gemeinsam mit Museumskurator Herrmann Pflug durch die Vasensammlung. Herr Pflug öffnete am zweiten Tag der Veranstaltung sogar einige Vitrinen; so stehen nun Bilder von direkt fotografierten Artefakten in der Wikipedia. Institutsmitarbeiter Nicolas Zenzen stellte in einem Vortrag die Geschichte des Instituts für Archäologie an der Universität Heidelberg vor, das dieses Jahr sein 150jähriges Bestehen feiert. Mit einem Vortrag beteiligt war auch Hubert Mara vom Institut für wissenschaftliches Rechnen. Der Informatiker präsentierte die Möglichkeit der 3D-Darstellung von Keilschrifttafeln und anderen schrifttragenden Objekten. Auch wenn die großen Datenmengen dieser 3D-Modelle derzeit noch ein Problem sind, kann man sich vorstellen, künftig auch solche wissenschaftlichen Hilfsmittel in der Wikipedia zu finden.
Die Schreibwerkstatt fand im Rahmen der Wikimedia-Veranstaltungsreihe GLAM on Tour statt. GLAM steht für Galleries, Libraries, Archives, Museums. Es ist die Abkürzung für das großangelegte Wikimedia-Projekt, das Wissen von Kultureinrichtungen im digitalen Raum frei verfügbar zu machen. Inzwischen ergreifen viele Museen, Archive und Sammlungen die Chance, mit der Wikipedia zusammenzuarbeiten. Große Institutionen wie die Deutsche Fotothek, das niederländische Rijksmuseum, das Deutsche Archäologische Institut oder das Londoner British Museum treiben so neben der Bewahrung kulturellen Erbes auch seine Vermittlung voran. Die Nutzung von Bild- und Textmaterial ist dabei durch die Creative-Commons-Lizenz geregelt; vor allem Bilder dürfen in der Regel nur mit Namensnennung und unter gleichen Bedingungen weitergenutzt werden.
Wikimedia-Mitarbeiterin Sina Wohlgemuth stellte die GLAM-Initiative vor. Zudem gab sie eine Einführung in das „Wikiversum“. So nennt sie die Vielzahl der Wikimedia-Projekte, deren größtes die Wikipedia ist, zu dem aber auch WikiCommons oder WikiData gehören. An ihren Vortrag schloss sich eine angeregte Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen der online-Publikation von Kulturgut und Wissenschaft an, bei der vor allem Urheberrechtsfragen im Fokus standen. Die beiden erfahrenen Wikipedianer Martin Rulsch und Marcus Cyron konnten viele Fragen beantworten. Die Diskussion zeigte aber, wie offen die gesellschaftliche Auseinandersetzung über freies Wissen noch ist.
Eine Möglichkeit, dieses Gespräch fortzusetzen, gibt es schon im nächsten Jahr. Dann macht GLAM on tour Station in der Universitätsbibliothek Heidelberg.
Ria Würdemann/Nele Schneidereit
Interview with Dr. Francesca Bigi (20.09.2016) | [Bericht lesen] |
GIS mapping of Inscriptions in the Antique City of Leptis Magna (Libya) |
Nele Schneidereit: Dear Francesca, you are visiting researcher for the month of September at the CRC 933 “Material Text Cultures”. Could you please describe what you are working on during your time in Heidelberg?
Francesca Bigi: I enter data into a geographic information system (GIS) – a digital map so to speak – of the antique city of Leptis magna, which is situated at the coast of what is today Libya. The map will show the spatial distribution of inscriptions within the city, and especially in its three most important buildings – the Old Forum, the Forum Severianum and the market. Also, I enter information about the material of these script bearing artefacts, about whether it was reused or not – reuse being a huge topic in antiquity –, what type of monument it is, who was honored with it, and whether the artefact still stands in its original place. These data are categorized, thus you can search for instance for the material marble and the map will highlight all the marble artefacts. If you click on one, it will automatically link with the Epigraphic Database Heidelberg which will give you all the other pieces of information, we have on it. I take the information from the book I wrote together with my colleague Ignazio Tantillo about Leptis magna, published in 2010: Leptis Magna. Una città e le sue iscrizioni in epoca tardoromana. When I came to Heidelberg in 2014, I updated many Leptis-entries of the Epigraphic Database Heidelberg and uploaded pictures of inscriptions. These entries can now be connected to the GIS-map I am working on. For the time being, the map is part of MTK-Online, but prospectively it will be open access.
Is the theoretic framework of the CRC 933, i.e. praxeological analysis of script bearing artefacts in order to better understand their meaning, of importance for your work?
Definitely. Without material analysis we would only have the text. The book Ignazio Tantillo and I wrote about Leptis would have been very thin if we had only edited the mere texts of the inscriptions. The whole thing is about looking at the artefacts from all angles, describe them and their surroundings carefully. Doing so changes future research fundamentally. For instance, for one site one hundred inscriptions were documented. Our material analysis at Leptis showed that twice as many inscriptions at the site had been removed. Though we do not know anything about their content, we can say now that there were at least three hundred inscriptions.
In which ways can future research benefit from your work on the GIS-Map?
There are a lot of possibilities. To begin with, it is very helpful to search the map by categories like type of inscription or person honored – especially because currently there are no archaeological activities in Leptis. Also, to learn about the topographical distribution and type of inscriptions at an antique site can give crucial information about social life in antiquity. For example, historians can use our data as evidence for theories about social changes in antiquity, if we find out that the type of inscriptions and the type of persons honored changed within a certain time span.
How is the situation in Libya today for archaeologists and epigraphists?
Unfortunately, the situation is very bad. The last time I was there was in 2006. Due to the political situation, archaeological work is not possible in Libya at the moment. It is too unstable now, and unfortunately, the situation is unlikely to change anytime soon. This is a pity, especially because there is still a lot of research to be done in Leptis Magna and other archaeological sites.
There are people who say, the rest of Leptis should not be excavated because of the decay caused by sand and wind. Do you agree with this?
In a certain respect, excavation always is destruction and poses therefore the question of conservation, which can be a very complicated and costly issue. But I think, Leptis is mainly constructed from durable materials and with a decent level of maintenance conservation should be possible. Of course it is always a matter of funding. But concerning the research on Leptis, it would be vital to excavate more parts of the city. For instance, we do not know anything about the private houses, thus cannot really say anything about private life in Leptis. Also, the excavated parts were dug out in the first decades of the XXth century, when stratigraphy was unknown and when the main focus was on the ‘original’ imperial phases. Therefore, all material from later times was neglected and very poorly documented during these excavations. For the old city center, these younger layers are lost, but for the bigger part of the city, which is still covered by sand, they are still preserved. Hopefully, it will be possible in a few years to continue our work in Leptis.
Thank you very much for the interview!
About:
Francesca Bigi is an independent researcher specialized in architectural decoration. She has worked in Leptis Magna, Libya, from 1998 to 2006, focusing on two main subjects: the forms of local architectural decoration and the forms, characteristics and reuse of epigraphic supports. In 2008 she completed her Ph.D. with a thesis on the capitals of Pompeii, and in the years 2013-2016 took part, as a collaborator of the British School at Rome, to the EAGLE project (Europeana network of Ancient Greek and Latin Epigraphy), working on the inscriptions from Libya. Within the same project she also carried out an update and enhancement of the Leptis Magna records contained in the Epigraphic Database Heidelberg.
Dr. Nele Schneidereit is scientific coordinator of the CRC 933.
Interview mit Prof. Dr. Christine Neufeld (18.08.2016) | [Bericht lesen] |
Inschriften in der englischen Erzählliteratur des Mittelalters |
Nele Schneidereit: Liebe Christine, Du bist seit Anfang Mai als Gastwissenschaftlerin am SFB 933. Woran hast Du in den vergangenen Monaten hauptsächlich gearbeitet?
Christine Neufeld: Ich habe einfach erst einmal alles gelesen (lacht); also – sehr viel alt- und mittelenglische Literatur und darin habe ich nach schrifttragenden Objekten gesucht. Die Fundstellen habe ich in die bereits bestehende Datenbank des Teilprojekts C05 eingetragen, in der Inschriften gesammelt werden, die in mittelalterlichen Texten vorkommen. Überraschend war, dass einige der Datenbank-Kategorien gar nicht passten. Die Textsorten, aber auch die Art der schrifttragenden Objekte unterschieden sich stärker als erwartet.
In welcher Weise kann die Datenbank für künftige Forschungen ertragreich sein oder weiterentwickelt werden?
Die Datenbank kann für komparatistische Arbeiten zu den klassischen Stoffen des Mittelalters sehr wertvoll sein. Zum Beispiel gibt es in allen europäischen Sprachen im Mittelalter Alexanderromane, also die Bearbeitung der Biographie Alexanders des Großen in versepischer Form. In diesen Versepen kommen Inschriften vor, die in unserer Datenbank gesammelt wurden. Wer sich mit der Rolle von Schriftlichkeit oder Inschriften im Alexanderroman beschäftigen will, der kann alle Inschriften-Stellen einfach in der Datenbank finden. Eine andere Anwendung ist die Suche nach bestimmten schrifttragenden Objekten wie zum Beispiel Schwertern – man muss nicht mühselig selbst alle Stellen suchen, sondern kann direkt mit der philologischen oder kulturhistorischen Arbeit beginnen.
Hast Du eine Lieblings-Inschrift in der altenglischen Erzählliteratur?
Es gibt sehr viele tolle Stellen. Man kann sie aber nicht einfach über eine Suchfunktion finden, weil man manchmal gar nicht weiß, was einem begegnen wird. Zum Beispiel ist eine besonders grausame Inschriftenszene diese aus einem Versroman über Richard Löwenherz aus dem späten 13. Jahrhundert: Der kannibalische Richard setzt den diplomatischen Vertretern der Sarazenen als Gastmahl gekochte Sarazener-Köpfe vor. Auf der Stirn dieser Köpfe sind die Namen und Stammbäume der Toten eingeritzt. Eine andere sehr spannende Stelle ist die in Geoffrey Chaucers Traumallegorie The House of Fame aus dem späten 14. Jahrhundert. Er beschreibt einen Eisfelsen, den man hochklettern muss, um zum Ruhmestempel zu gelangen. In das Eis sind die Namen berühmter Dichter geritzt – an der Schattenseite sind sie noch zu sehen, in der Sonne schmelzen sie natürlich. Ich denke viel darüber nach, was mit solchen Darstellungen von Inschriften gemeint ist.
Lässt die Auseinandersetzung mit Inschriften in der Erzählliteratur Schlüsse über die kulturellen Kontexte zu, in denen die Texte entstanden sind?
So ganz einfach und unmittelbar ist das nicht möglich, aber inzwischen haben wir genug Daten gesammelt, um jedenfalls Fragen zu stellen, die in diese Richtung gehen. Durch diese Fragen kann das Gespräch mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern angestoßen werden, das unbedingt interdisziplinär geführt werden sollte. Man kann bereits einige Unterschiede im Wandel der Zeiten, aber auch zwischen den Sprachräumen erkennen. In der englischen Literatur des Mittelalters verändert sich zum Beispiel die Art der Beschriftung von Schwertern. Erst sind Geschichten eingraviert, und das Schwert ist fast selbst ein lebendiger Agent. Später, im Versepos, tragen Schwerter meist einfach nur den Namen ihres Besitzers; sie sind Teil seiner Identität. Solche Beobachtungen lassen natürlich immer vorsichtige Rückschlüsse auf die unterschiedlichen kulturellen Kontexte zu.
Zeigten sich signifikante Unterschiede zwischen den Inschriften im anglophonen Sprachraum im Verhältnis zum deutschsprachigen oder altnordischen?
Wir sammeln derzeit noch, daher ist es ein wenig zu früh, um generelle Aussagen zu treffen. Signifikant sind vielleicht die unterschiedlichen Einflüsse – die englische Literatur ist natürlich sehr stark von der romanischen geprägt. Aber feindliche und freundliche Begegnungen mit skandinavischen Völkern über mehrere Jahrhunderte haben auch Einfluss gehabt. Das führte dazu, dass nord-germanische Gegenstände wie Runenstäbe in der frühen englischen Literatur vorkommen, als sie in Mitteleuropa längst verschwunden waren. Im Mittelenglischen gibt es noch das Wort runish, von dem wir nicht genau wissen, was es bedeutet, das aber vornehmlich Magie oder geheimes, verborgenes Wissen anzeigt. Aber insgesamt würde ich für den lateinisch-christlich geprägten Raum eher einen ähnlichen Umgang mit Inschriften in der Literatur des Mittelalters erwarten. Interessant wäre, ob es im hebräisch- oder im arabischsprachigen Raum ganz andere Tendenzen gibt.
Gemeinsam mit dem Teilprojekt C05 planst Du einen komparatistisch angelegten Band zu Inschriften in Erzähltexten des Mittelalters. Könntest Du Fragestellung und Aufbau des Bandes ein wenig erläutern?
In dem Band geht es allgemein um die Reflexion von Inschriftlichkeit und damit indirekt auch von Schriftlichkeit in der Erzählliteratur des Mittelalters. Im ersten Teil stellen wir allgemeine Überlegungen dazu an und beschreiben die Datenbank. Dann kommen Artikel zu den einzelnen Sprachräumen und ihren Interaktionen. Im zweiten Teil des Bandes planen wir Artikel zu einzelnen Materialien wie Textilien, Grabsteinen, Schmuck oder Knochen, aber auch zu Praktiken und Räumen, wie sie in der Literatur beschrieben werden. Beide Teile sind besonders interessant, weil wir ja einige Stoffe wie den Alexanderroman oder die Artussage haben, die in vielen Sprachräumen vorkommen. Ich bin selbst schon sehr gespannt, was die anderen gefunden haben.
Woran forschst Du an Deiner Heimatinstitution, der Eastern Michigan University in Ypsilanti? In welcher Weise ist die Auseinandersetzung mit Inschriftlichkeit für Deine eigenen Forschungen anschlussfähig?
Das ist eine gute Frage (lacht). Eigentlich forsche ich geradezu am Gegenteil zu den materialen Textkulturen. Ich beschäftige mich mit der Darstellung von Frauenstimmen in der Literatur des Mittelalters, die meist sehr frauenfeindlich ist – die Rede ist von Geschwätz, Klatschweibern usw. Dafür setze ich mich mit aktuellen Theorien zum Hören und zu Lauten auseinander (sound studies). Eigentlich ist meine Forschung also überhaupt nicht mit Inschriftlichkeit verbunden. Man könnte sich allerdings auch bei Inschriften in der Literatur fragen, ob es gender-Aspekte gibt, die wir bislang nicht gesehen haben. Ich denke da an Inschriften in privaten vs. öffentlichen Räumen oder an bestimmte Schreibaktivitäten, die männlich oder weiblich konnotiert sind, wie das Besticken von Textilien.
Was hat Dir an der Arbeit am SFB 933 und in der Germanistik in Heidelberg besonders gut gefallen?
Meine Kollegen und die Art der Zusammenarbeit! Ich finde es wirklich ganz toll, dass die interdisziplinäre Zusammenarbeit in Deutschland so gefördert wird. Mit Assyriologen oder Althistorikerinnen zu gemeinsamen Themen ins Gespräch zu kommen, ist eine tolle Erfahrung. Es ist einfach ein ganz anderes Erlebnis, hier Akademiker zu sein.
Vielen Dank für das Gespräch!
Zu den Personen:
Prof. Dr. Christine Neufeld ist Professorin am Department for English Language and Literature an der Eastern Michigan University in Ypsilanti, USA. Zu ihren Forschungsinteressen gehören Geoffrey Chaucer, der Artusroman, die Theorie von Oralität, Sound Theory sowie Gender Studies. Von Mai bis August 2016 ist sie Gastwissenschaftlerin im Teilprojekt C05 „Inschriftlichkeit. Reflexionen materialer Textkultur in der Literatur des 12. bis 17. Jahrhunderts“ am SFB 933.
Dr. Nele Schneidereit ist wissenschaftliche Koordinatorin am SFB 933.
Interview mit Assoc. Prof. Dr. Daniela Urbanová (14.06.2016) | [Bericht lesen] |
Vom 28. Mai bis 11. Juni 2016 war Assoc. Prof. Dr. Daniela Urbanová (Masaryk-Universität Brünn, CZ) Gast des Teilprojektes A03. Einer ihrer zentralen Forschungsschwerpunkte sind lateinische Fluchtafeln (defixiones) sowie allgemein Fragen zur antiken Magie und deren Nachleben. |
Frau Urbanová hielt einen Vortrag zu „Magische Riten im Antiken Liebesleben“ und einen Workshop zum Neufund eines magisch-christlichen Bleiamuletts aus Dřevič/CZ. Während ihres Aufenthaltes in Heidelberg wurde der seit Monaten bereits enge Austausch mit den einzelnen drei Unterprojekten des TP A03 nochmals intensiviert und ausgeweitet. Im Verlauf der beiden Wochen wurden konkrete gemeinsame Projekte definiert.
Ulrike Ehmig: Das Bild der Lateinischen Philologie ist vom Kanon der klassischen Autoren bestimmt. Was war für Sie das Reizvolle, sich mit lateinischen Fluchtafeln zu beschäftigen und worin sehen Sie ihren Wert für die philologische Disziplin bzw. die Altertumswissenschaften insgesamt?
Daniela Urbanová: Was meine akademische Bildung betrifft, lagen meine Schwerpunkte zunächst eher auf dem Gebiet der lateinischen Sprache und Linguistik, später auch in der archaischen lateinischen Epigraphik. In meiner Doktorarbeit habe ich mich mit archaischen lateinischen Inschriften im Kontext der Sprachen Altitaliens befasst. Mir waren Inschriften als sehr authentische Zeugnisse des antiken Lebens also schon immer sehr wichtig. Bei den defixiones handelt es sich um wirklich sehr spezifische und intime Zeugnisse des römischen Alltags, deren Texte sehr lange gar nicht intensiv studiert wurden. Man könnte sie für eine Goldgrube halten: Vom Sprachlichen her enthalten sie eine Menge vulgärlateinischer Elemente und bezeugen die Schreibpraxis der nicht besonders gebildeten Schichten. Andererseits findet man Texte von hohem stilistischem Niveau mit fast literarischen Zügen und schließlich auch magische Elemente. Jeder findet auf diesem Gebiet das Seine, seien es die Archäologen, Religionswissenschaftler, Althistoriker, Juristen oder Linguisten.
Die Dokumente enthalten auch ein sprachliches Gemeingut, das jede Zivilisation besitzt, da ein Fluch auf sprachlicher Ebene sehr oft ähnlich wie ein Gebet formuliert wird. Durch diese Zeugnisse, die unter vier Augen mit der Gottheit entstanden, erfahren wir viel über die alltäglichen Ängste und Schwierigkeiten – in vielen Fällen konnte sich der Fluchende in seiner Situation nicht ‚legal‘ zur Wehr setzen oder Gerechtigkeit erlangen, also blieb nur der Fluch, durch den die höhere Macht eingreifen konnte. Häufiger aber erleben wir durch diese Täfelchen Zorn, Rivalität, Hass oder aber auch Liebeskummer. Gerade diese ‚kleinen‘ Inschriften ergänzen unser Bild von den Menschen der Antike.
Die akademische Beschäftigung mit der Antike erweckt bisweilen den Eindruck, für die heutige Lebenswelt nicht relevant zu sein. Worin sehen Sie den Nutzen der Auseinandersetzung mit antiker Magie für das Verständnis heutiger Sinnsuche und der Frage nach übernatürlichen Mächten?
Ich glaube, dass die Antike für den heutigen Menschen viel zu bieten hat. Hier möchte ich unseren berühmten Schriftsteller und Dramatiker Karel Čapek frei zitieren. Er sagt: Während die Zeitungen immer mit denselben Worten über brandneue Ereignisse schreiben, spricht die schöne Literatur immer mit anderen Worten über dieselben menschlichen Lebenssituationen. Obwohl sich viele Dinge sehr rasch entwickeln und verändern, bleiben grundsätzlich dieselben menschlichen Probleme, sei es Liebeskummer vor zweitausend Jahren oder heute. Jeder unglücklich Verliebte, um nur ein Beispiel zu nennen, kann auch heute noch Trost bei der Lektüre von Catull oder Ovid finden. Europäische Kultur und Humanität beruhen ja auf antiker griechisch-lateinischer Basis.
Was die Anwendung von Magie in der Antike betrifft, könnte man viele solcher Phänomene auch als eine ethnologisch-psychologische Konstante sehen, die es in jeder Gesellschaft gibt und die auch heute zum Vorschein kommt. Wer hat nicht einmal ein Horoskop gelesen oder sich gar Karten legen lassen? Oder wer möchte nicht den unbekannten Taschendieb einfach bestrafen? Vorstellungen von übernatürlichen Mächten begleiten unser tägliches Leben ständig; sei es die heilige Maria, zu der ich bete, damit mein Kind gesund wird, sei es der heilige Gennaro, der von den Neapolitanern angerufen wird, damit kein Erdbeben kommt. Die Grenzen zur Magie sind dabei fließend. Und obwohl wir uns dessen vielleicht nicht so ganz bewusst sind, ist Magie vielerorts präsent und muss nicht unbedingt negativ gesehen werden. Es ist ein Mittel der Alltagsbewältigung.
Das Heidelberger Teilprojekt A03 „Materialität und Präsenz magischer Zeichen zwischen Antike und Mittelalter“ steckt mit den drei Unterprojekten einen großen zeitlichen wir räumlichen Rahmen ab, der vom alten Ägypten bis in das zentraleuropäische frühe Mittelalter reicht. Sie haben mit Ihren Arbeiten vielfältige Anknüpfungspunkte in alle drei Projektteile gefunden. Würden Sie dabei mehr auf die Unterschiede oder auf die Gemeinsamkeiten von „Magie“ hinweisen, das heißt würden Sie im Blick auf Antike und Vormoderne eher von einer „magischen koiné (Einheit)“ sprechen oder von verschiedenen magischen Konzepten?
Ich würde sicher auf die Gemeinsamkeiten verschiedener magischer Vorgänge oder Rituale und Formulierungen im Mittelmeerraum hinweisen, also eher von einer „magischen koiné“ sprechen. Im Grunde genommen sind die Lebenssituationen, in deren man auf Magie zurückgreift, sehr ähnlich, und vor allem in der späteren Kaiserzeit – also im 2./3. Jh. u. Z. – kann man eine Art von magischem Synkretismus beobachten, wobei sich ägyptische, hebräische, griechischen und lateinische Elemente mischen und zusammenwachsen. Nehmen wir die Fluchtafeln aus Germanien: Sie bezeugen eine ziemlich rasche und variationsreiche Verbreitung des ursprünglich mittelmeerischen Verfluchungsgutes bis in die nördlichen Grenzgebiete des römischen Reiches.
Noch einmal zurück zu den lateinischen Fluchtafeln: Häufig wurden sie bisher weitgehend unter sprachlichen Aspekten – Stichwort ‚Vulgärlatein‘ – betrachtet. Wo sehen Sie noch neue Forschungsansätze?
Ja, wie schon gesagt, diese Texte sind eine Fundgrube an Sprachbesonderheiten, die als vulgärlateinische Elemente betrachtet werden und lokale Sprachspezifika einzelner Regionen widerspiegeln können. Um jedoch wirklich sichere Schlüsse für die Sprachentwicklung des Lateinischen zu ziehen, müssen wir sehr vorsichtig vorgehen. Erstens verfügen wir nur über vergleichsweise wenig Texte, es sind ca. 600. Davon sind um die 400 gut erhalten und lesbar. Zweitens ist auch die Datierung oft sehr ungenau, da die Funde aus dem 19. Jh. überwiegend ohne Fundkontext oft aus nicht regulären Ausgrabungen kommen. Zudem wurden die Täfelchen sehr oft in Gräbern und Wasserquellen abgelegt, die eher grobe Anhaltspunkte für die Datierung bieten. Drittens beinhalten diese Texte sich wiederholende Formulare, die das magische Denken widerspiegeln, von der Struktur her jedoch monoton sind, also nicht die ganze sprachliche Vielfalt wiedergeben.
Was ich persönlich sehr spannend finde, ist der Übergang oder das Nach- bzw. Weiterleben des Fluch-Sprachgutes, also verschiedener magischer Formulare bzw. Rituale, mit denen die Höhere Macht angesprochen und gebeten wurde, jemandem zu schaden. Interessant sind die frühchristlichen und mittelalterlichen Amulette, die die alten Formulare benutzen, um den Träger zu schützen und die bösen Kräfte abzuwehren.
*
Dem Gastaufenthalt von Daniela Urbanová in Heidelberg ging ein Besuch von Konrad Knauber (A03-UP3) in Dřevič voraus, wo im vergangenen Jahr ein magisch-christliches Amulett gefunden worden war. Zusammen mit den zuständigen archäologischen Kollegen am Ort bereiten Daniela Urbanová und Konrad Knauber eine Erstvorlage des Stücks vor, das sie am 8. Juni mit Kollegen am Landesmuseum Halle diskutieren konnten. Soweit das Amulett bisher lesbar ist, enthält es mit „adiuro“ eine Beschwörungsformel, die so auch in nordafrikanischen lateinischen defixiones des 2./3.Jh. und frühchristlichen Grabinschriften aus Italien vorkommt. In einer gemeinsamen Studie werden Daniela Urbanová, Ulrike Ehmig und Konrad Knauber der Entwicklung und Wandlung der adiuro-Formulierung nachgehen. Ende September/Anfang Oktober wird Ulrike Ehmig den Austausch in Brünn fortsetzen und die Einladung zu einer vierzehntägigen Gastdozentur an der Masaryk-Universität wahrnehmen.
Zu den Personen:
Assoc. Prof. Dr. Daniela Urbanová ist Lateinische Philologin und Dozentin an der Masaryk-Universität Brünn/CZ. Sie habilitierte im Jahr 2015 über die lateinischen Fluchtafeln im Imperium Romanum und ist daher eine der wichtigsten Ansprechpartnerinnen für das Projekt A03-UP2.
PD Dr. Ulrike Ehmig ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt A03-UP2 „Magie im Kontext: defixiones und die Kommunikation mit den antiken Göttern“.
Interview mit Prof. Dr. Jürgen Paul Schwindt (TP C03) (11.03.2016) | [Bericht lesen] |
Am 12. Februar 2016 richtete das Teilprojekt C 03, geleitet von Prof. Dr. Jürgen Paul Schwindt (Klassische Philologie), eine Journée Roland Barthes aus. Anlässlich des 100. Geburtstages von Barthes unterzogen die Teilnehmer mehrere Texte aus den "Mythologies" einer gemeinsamen dichten Lektüre. Herr Schwindt berichtet in unserem Interview. |
Nele Schneidereit: Lieber Herr Schwindt, warum sollte man Barthes‘ Mythologies heute noch oder heute wieder lesen?
Jürgen Paul Schwindt: Barthes selbst hielt 1970 seine Analysen aus den 1950ern für überholt. Er hatte inzwischen eine andere Sicht auf die zeichentheoretischen Grundideen der Mythologies. Ich bin jedoch der Ansicht, dass die ideologiekritische Analyse der Welt, die uns umgibt, und der Bilder, mit denen sie gestaltet wird, immer noch trägt. Die dünne Schicht, die Barbarei und Aufklärung trennt, lässt sich leicht von der Zivilisation abkratzen. Barthes’ Lektüren von Alltagsgegenständen zeigen uns, wie wir bei dieser Analyse verfahren könnten.
Welchen Gesichtspunkten folgte die Textauswahl der Lektüreeinheiten bei der Journée?
Wir haben die Texte aufgrund ihrer Komplexität und ihrer historischen Tiefendimension ausgewählt. Barthes’ Denken über die medialisierte Alltagskultur zeigt sich besonders prägnant in Paris n’a pas été inondé und in Le visage de Garbo. Außerdem ist die zeichentheoretische Lektüre der Welt in Barthes’ Analysen zur Auflösung der Flusslinie der Seine in eine Wasserfläche und zur Flächigkeit des maskenhaften Gesichts der Garbo gut nachvollziehbar.
Entsprach das Veranstaltungsformat der gemeinsamen Lektüre von Barthes-Texten dem Programm eines ‚lesenden Fortschreibens‘?
Ja, so kann man das sagen. Wir haben es in den letzten Jahren häufig so gehalten, dass wir Gäste nicht mehr zu Vorträgen, sondern zum gemeinsamen Lesen eingeladen haben. Der Spektakelcharakter von Vorträgen entspricht oft einfach nicht der philologischen Ernsthaftigkeit. Auch für die Auseinandersetzung mit einem Denker wie Barthes ist die interaktive Geistigkeit viel geeigneter – zumal mit Gästen wie Eva Geulen, Melanie Möller, Gerhard Poppenberg und Barbara Vinken.
Was kann man aus Barthes’ Mythologies für das Verständnis der Materialität von Schrift im non-typographischen Zeitalter lernen?
Für die materiale Schriftkultur selbst lassen sich keine Schlüsse aus Barthes’ Texten ziehen, und auch die Ideologiekritik führt uns beim Umgang mit antiken Texten nicht weiter. Es ist aber sehr aufschlussreich, mit Barthes’ früher Semiologie (Zeichentheorie) auf „das Denken der Schrift“ (so hieß unser Projekt in einer früheren Phase) und auf die Reflexion von Schriftlichkeit in der Vormoderne zu schauen. Barthes unterzieht ja auch solche Dinge einer textuellen Analyse, die eigentlich dafür nicht zugänglich sind, weil es sich nicht um Texte, sondern um Alltagsgegenstände oder Bilder handelt. So kann man sich von einem rein philologischen Textbegriff lösen und das Phänomen der Textualität selbst in den Blick nehmen. Wir leben ja heute in einer Welt, in der Schrift omnipräsent ist; Schrift verändert unsere Weltwahrnehmung. Schon der aufgeklärten Kultur der augusteischen Ära aber liegt, so unsere These, eine obsessive Befassung mit avancierten Konzepten der Litteralität zugrunde.
Welche Rolle spielt die Semiologie für Ihr Teilprojekt C03? Und welche Art von Textumgang folgt daraus?
Meine Mitarbeiter und ich erforschen die Reflexion von Schriftlichkeit und (in dem eben benannten Sinne) Buchstäblichkeit in den Texten des Vergil und Horaz, des Tibull, Properz und Ovid. Man kann beobachten, wie die Autoren die Materialität des Textes ins Zentrum ihrer Gestaltung rückten. Dabei geht es nicht um den materialen Textträger, sondern um den Text als solchen. Er selbst sollte die Zeiten überdauern, nicht irgendwelche zeitgenössischen metaphysischen Ideen, die ihre textuelle Gestalt abstreifen können. Einige wenige Leitbegriffe sollten die Texte wie eine Arche durch die Zeiten tragen. Wir lehnen es daher ab, Texte nur als Konzepttexte, als Ideenbehälter zu lesen, sondern beobachten, wie die Texte sich ihrer Textualität bewusst sind und sie zu erhalten suchen. Auch dies ist ein Umgang mit der Materialität von Texten, die im SFB 933 erforscht wird.
Zu den Personen:
Prof. Dr. Jürgen Paul Schwindt ist Professor für Klassische Philologie an der Universität Heidelberg und leitet das Teilprojekt C03 „Zeitformen. Raumformen. Strategien der Verhandlung von Materialität und Präsenz der Schrift in der augusteischen Literatur“ am SFB 933.
Dr. Nele Schneidereit ist wissenschaftliche Koordinatorin am SFB 933.
Videoworkshop mit Eckhard Geitz (23.02.2016) | [Bericht lesen] |
Wissenschaftskommunikation braucht auch in den Geisteswissenschaften neue Formen. In einem Workshop mit dem Kasseler Dokumentarfilmer Eckhard Geitz lernen Mitglieder des SFB 933, Kurzvideos zu konzipieren und zu produzieren. |
Die Weiten des Internet sind unendlich. Man findet viel. Zu viel. Einfache Suchanfragen liefern eine Masse von Informationen, die allein durch die Relevanzkriterien von Suchmaschinen geordnet sind. Statt einem Meer an Wissen, erscheint auf dem Bildschirm eine Nebelbank. Daraus ragen Verlage, Universitäten und Zeitungen als alte Vertraute empor. Der Rest ist dunkel. Wissenschaftskommunikation soll Klarheit schaffen. In Zeiten des Information Overload ist sie dafür auf Formate angewiesen, die als Nebelleuchte den Weg weisen können. Diese Formate müssen den veränderten Rezeptionsgewohnheiten angepasst sein: Interessant, kurz und am besten: bebildert.
Der SFB 933 hat sich eine zeitgemäße Kommunikation von Wissenschaft zum Ziel gesetzt. Eine der Maßnahmen ist die Aufbereitung der Wissensbestände und der Forschungspraxis in Videos, die auf die Webseite des SFB 933 geladen werden. Bislang finden sich dort Interviews und Vorträge. Was fehlte, waren kürzere und bildreichere Beiträge, die weniger Konzentration verlangen. Mit diesen Beiträgen könnte man nicht nur Fachkollegen über den SFB 933 informieren, sondern auch eine breitere interessierte Öffentlichkeit.
Aus diesem Grund haben Friederike Elias und Christian Vater vom Teilprojekt Ö „Schrifttragende Artefakte in neuen Medien“ den Dokumentarfilmer Eckhard Geitz an den SFB 933 eingeladen. Geitz ist studierter Politikwissenschaftler und Dokumentarfilmer. 2014 erhielt er gemeinsam mit Sobo Swobodnik den Bremer Dokumentarfilm-Förderpreis für das beste Drehbuch.
Der Workshop „Webvideos und Artefaktbiographien. Einstieg in die konzeptionelle Videoarbeit“ fand vom 18.-19. Februar im Projektraum des SFB 933 statt. Die sieben Teilnehmer – darunter drei Teilprojektleiter – erarbeiteten gemeinsam mit Geitz vier Kurzvideo-Formate für die Projektseiten des SFB 933. Julia Lougovaya (Leiterin des TP A 09 „Schreiben auf Ostraka“) erläutert in ihrem Video, wie man von einem Ostrakon zur vollständigen Erfassung von Form und Inhalt auf der Datenbank www.papyri.info kommt. Das Video soll einerseits über ihre Arbeit informieren, andererseits andere Wissenschaftler zur Mitarbeit an der Transkription von Ostraka-Texten motivieren.
Ein weiteres Video zeigt Herrn Giele, Teilprojektleiter des TP B09 („Holz und Bambus im alten China“) bei einem archäologischen Experiment: Er versuchte, sechszehn Holzleisten mit einer Schnur so zu verbinden, wie im alten China Bambusspleißen und Holzleisten zu Schriftrollen verbunden wurden. Dieser Versuch sollte eigentlich als interne Diskussionsgrundlage für das eigene Teilprojekt dienen. Es zeigte sich aber, dass eine verkürzte Fassung durchaus für die Teilprojektseite geeignet ist, weil sie einen kurzweiligen Einblick in die Forschungspraxis des Teilprojekts geben kann.
Michael Ott, Mitarbeiter im altgermanistischen Teilprojekt C05 „Inschriftlichkeit“, entschied sich für eine Nacherzählung der Geschichte vom Apfel der Discordia. Heraus kam ein überaus unterhaltsamer kurzer Clip, der zeigt, wie man einen Forschungsgegenstand mit sehr einfachen Mitteln veranschaulichen und dabei spielerisch die Mittel der digitalen Gegenwart nutzen kann.
Ein weiteres Format ist noch in Arbeit. Darin soll in Schichten das Theoriedesign des SFB 933 veranschaulicht werden. Von philologisch aufbereiteter Schriftlichkeit wollen Friederike Elias (Leiterin des TP Ö), Michaela Böttner vom HCCH und die wissenschaftliche Koordinatorin des SFB 933, Nele Schneidereit, an einem populären Beispiel zurück zu materialisierter und kontextualisierter Schrift gehen. Das Video soll zeigen, dass man so sensibler mit Texten aus lange vergangenen Zeiten umgehen kann.
Eckhard Geitz war von der konzentrierten und produktiven Arbeit im Workshop begeistert. „Ich hätte nie gedacht, dass wir so weit kommen“, fasste er seinen Eindruck am Ende zusammen. Auch wenn sich einige Teilnehmer gewünscht hätten, technisch noch versierter aus dem Workshop zu gehen, waren alle mit den entwickelten Formaten sehr zufrieden.
Man sollte nicht erwarten, dass der SFB 933 mit den Kurzvideos gleich zu einem Leuchtturm zeitgemäßer Wissenschaftskommunikation wird. Man darf aber hoffen, dass er nun kleine Nebelleuchten hat, die den Weg zu den Forschungsergebnissen der Teilprojekte weisen.
Nele Schneidereit, Geschäftsstelle/Christian Vater, TP Ö (23. Februar 2016)
Kontakt: nele.schneidereit@uni-heidelberg.de, vater@uni-heidelberg.de
2. Gemeinsamer Workshop des SFB 933 „Materiale Textkulturen“ mit dem SFB 980 „Episteme in Bewegung“ (16.10.2015) | [Bericht lesen] |
2. Gemeinsamer Workshop des SFB 933 „Materiale Textkulturen“ mit dem SFB 980 „Episteme in Bewegung“ |
Am 16. Oktober 2015 trafen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des SFB 933 „Materiale Textkulturen“ und des an der FU Berlin beheimateten SFB 980 „Episteme in Bewegung“, um über die Frage zu diskutieren, wie Artefakte, Manuskripte und Wissensbestände in Bewegung geraten und was das für die in ihnen bewahrten Wissensbestände bedeutet.
Häufig befinden sich schrifttragende Artefakte und Manuskripte an einem festen Ort, etwa in Archiven oder Bibliotheken, aber auch in Gräbern oder Tempeln, an Mauern oder Toren. Ebenso sind Wissensbestände häufig an bestimmte Orte und Institutionen gebunden. Dieser dominanten Immobilität des schriftlich gespeicherten Wissens stehen ebenso wirkmächtige Praktiken der Mobilisierung entgegen. Manuskripte gehen auf Reisen: werden getauscht, verkauft, gestohlen, werden auf Reisen geschrieben und als Briefe verschickt. Das in der Schrift bewahrte Wissen bleibt bei diesen Bewegungen nicht unverändert. Es wandelt sich, wenn es heimlich ausspioniert oder organisiert abgeschrieben wird, wenn es neu entdeckt, aktualisiert und mit anderem Wissen kombiniert wird. Diese Praktiken und der mit ihnen verbundene Wissenswandel standen im Fokus des gemeinsamen Workshops.
Im ersten Teil des Workshops sprach Nora Schmidt über die Reflexion von Inschriften in der altarabischen Dichtung und im Koran. Wurden Inschriften zuvor eher als Emblem der Unverständlichkeit und Vergänglichkeit gewertet, so steht Schrift im Koran für die Verkündigung des virtuellen göttlichen Wortes. Pietro Daniel Omodeo stellte sein Projekt zu Theorien der Gezeiten in der Renaissance vor. Durch Kontextualisierung von vier konkurrierenden Modellen und ihrer datenbankgestützten Analyse hofft Omodeo, den Diskurs rekonstruieren zu können, vor dessen Hintergrund das kopernikanische Weltbild entstand. Auch Claudia Reufers‘ Vortrag behandelte ein Renaissance-Thema: Ihre Forschung konzentriert sich auf die beiden erhaltenen Zeichnungsbücher Jacopo Bellinis, deren Darstellung des Leidensweges Christi figürlich eine andere oder ergänzende Interpretation zulassen, als sie der biblischen Bericht vorgibt.
Der zweite Teil des Workshops wurde von Mitgliedern des SFB 933 bestritten. Den Auftakt machte der Sinologe Enno Giele, der den Weg eines Edikts von der Mitte an die Grenze des chinesischen Reiches skizzierte. Andrea Jördens zeigte, dass die Publikation von auf Papyri verfassten Verordnungen auf Stein in der antiken Praxis mit dem Wissen über das Format der Publikation verbunden gewesen sein muss. Mit Michael Otts Vortrag über die Beweglichkeit der Bäume bewegte sich die Diskussion ins späte Mittelalter und die Frühe Neuzeit. Im Mittelpunkt seiner Auseinandersetzung stand die Frage, weshalb in der frühneuzeitlichen Literatur von Bäumen als Schriftträgern berichtet wird, während sich in der mittelalterlichen Literatur kaum solche Stellen finden lassen. Seine These war, dass mit der besseren postalischen Infrastruktur auch das Zirkulieren von Poesie zunimmt. Die Mediävistin Charlotte Kempf schließlich stellte am Beispiel eines in Frankreich arbeitenden deutschen Druckers dar, wie Wissensbestände durch Neudruck in Bewegung kommen.
In der Schlussdiskussion ging es vor allem um den Bewegungsbegriff. Dem Workshop lag ein Verständnis von Bewegung im konkret-räumlichen Sinn zugrunde, während das Konzept des Berliner SFBs Bewegung als „Transfer“ und Wandelbarkeit von Wissen auffasst. Beide Auffassungen können jedoch gut gemeinsam diskutiert werden; die Bewegung von materialen Artefakten geht häufig mit einer Neukontextualisierung und damit mit einer Veränderung der in ihnen bewahrten Wissensbestände einher.
Der Workshop fand im Rahmen der Kooperation der Sonderforschungsbereiche 933, 980 „Episteme in Bewegung“ und 950 „Manuskriptkulturen“ statt. Bereits im Oktober 2014 hatten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der drei SFBs in Berlin getroffen, um sich über „Marginalien und ihre Dynamiken in der Wissensforschung“ auszutauschen. Die drei SFBs vereint das Interesse an einer differenzierten Forschung zur Vormoderne. Weitere kooperative Veranstaltungen sind in Planung.
Bericht: Nele Schneidereit, SFB 933 Geschäftsstelle (30.11.2015)
Kontakt: nele.schneidereit@uni-heidelberg.de)
Workshop zu Zerstörung von Geschriebenem (2.-3.12.2015) | [Bericht lesen] |
Zerreißen, Durchstreichen, Verbrennen, Aufessen. Anfang Dezember diskutierte die Arbeitsgruppe „Zerstörung von Geschriebenem“ des SFB 933 unter der Leitung von Professor Joachim Quack Praktiken der Schriftvernichtung in ihren kulturellen Kontexten. |
Die gezielte physische Zerstörung von schrifttragenden Artefakten ist ein Phänomen, das durch die Zeiten hindurch beobachtet werden kann. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des öffentlichen Workshops, der am 2.-3. Dezember am Internationalen Wissenschaftsforum Heidelberg (IWH) stattfand, diskutierten die Vielzahl der Methoden in verschiedenen kulturellen Kontexten und Situationen. Eine Publikation der Beiträge des Workshops in der MTK-Reihe ist geplant.
Die Funktion der mutwilligen Beschädigung von Geschriebenem lag in den erörterten Beispielen zumeist darin, die verschriftlichten Ideen oder Tatbestände ungültig zu machen. Vernichtung kann dabei sehr unterschiedlich ausfallen. Oft werden Papyri und Bücher verbrannt oder Stein zerbrochen, zuweilen reicht auch die Durchstreichung und es kann sogar wichtig sein, das Durchgestrichene oder das Beschädigte als ungültig zu dokumentieren und aufzubewahren. Ein literarischer Text aus dem Alten Ägypten, legt darüber hinaus nahe, dass die bloße Entfernung von Rechtsdokumenten wie Katasterdokumente oder Personenregister aus ihrem zugewiesenen Ort die Rechtsetzungen aufheben konnte, so dass Eigentums- und soziale Verhältnisse aufgehoben wurden.
Mehrere Vorträge konnten deutlich machen, dass der Akt des Aufschreibens häufig mit der Intention der anschließenden Vernichtung ausgeübt wurde. Adrian Heinrich zeigte, dass man in Mesopotamien Figürchen durch Beschriftung mit der Krankheitsursache identifizierte, so dass diese greifbar und damit angreifbar wurde. Ähnlich funktionierte die Beschriftung und anschließende Zerstörung von Ächtungsfiguren im Alten Ägypten, die mit Namen von Feinden versehen wurden, wie Ann-Katrin Gill darlegen konnte. Georges Declercq berichtete für das europäische Mittelalter, dass häretische Ideen nicht nur in der Form von Büchern sondern gelegentlich auch in einer Liste zusammengefasst verbrannt wurden und auch weitere Fälle legten nahe, dass mit der Vernichtung der verschriftlichen Ideen oft der Autor selbst getroffen werden sollte. Autor, Geschriebenes (Namen und Ideen) und Beschriebenes gehen in den Praktiken absichtsvoller Zerstörung von Geschriebenem offenbar eine enge Verbindung ein, durch die die Zerstörung eines Gegenstandes Wirkungen auf intellektueller oder spiritueller Ebene entfalten kann.
Die Beschriftung oder Verschriftlichung dient dabei der Materialisierung der Zielpersonen und Zielobjekte und ermöglicht so überhaupt erst eine physische Zerstörbarkeit derselben. Durchaus unterschiedlich ist bei den erstaunlich persistenten Praktiken die Intention: Ideen sollen zerstört, aber auch bewahrt werden; In einer Geschichte aus dem Alten Ägypten nimmt der Protagonist die Asche eines extra beschriebenen Papyrus ein, um das verschriftlichte Wissen zu verinnerlichen. Ob diese Lernmethode dem Buch unter dem Kopfkissen überlegen ist, kann leider nicht mehr festgestellt werden.
Bericht: Carina Kühne/Nele Schneidereit (11. Dezember 2015)
Kontakt: carina.kuehne@uni-heidelberg.de, nele.schneidereit@uni-heidelberg.de